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PODIUMSDISKUSSION ! „Gespaltenes Europa” – Brauchen wir einen Totalitarismus-Gedenktag?

Sehr geehrte Damen und Herren,

am 2. April 2009 verabschiedete das Europäische Parlament die „Entschließung zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus”, in der es fordert, den 23. August (den Jahrestag der Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Pakts) zum Gedenktag für die Opfer totalitärer und autoritärer Regime zu erklären. Damit geht die Debatte um unsere Identität – sprich: die Identität der Europäischen Union – in die nächste Runde. Mit der Erweiterung der Gemeinschaft um die Länder Mittel- und Osteuropas, deren Erinnerung durch den Kommunismus geprägt ist, stand das Gedenken an die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht mehr im Mittelpunkt der europäischen Erinnerung. Man begann die Frage zu stellen, welches totalitäre Regime im Gedächtnis Europas den größten Raum einnehmen sollte: das braune oder das rote? Und: Ist es möglich, eine gemeinsame europäische Geschichte zu schreiben? Heute können wir noch eine weitere Frage hinzufügen: sollte es einen gemeinsamen europäischen Gedenktag an die Opfer des Nazismus und des Kommunismus geben?

Lesen Sie hier die Aufzeichnung einer Diskussion, die am 12. August in Warschau im Klubcafé Chłodna 25 zu diesem Thema stattfand. Die Debatte der „Kultura Liberalna” gehörte zum Projekt „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts in Polen und Deutschland”, veranstaltet vom Stefan-Starzyński-Institut (einer Abteilung des Museums des Warschauer Aufstands) sowie „Jugend bewegt Europa e.V.“ aus Deutschland.

Diskussionsteilnehmer waren: Paweł Śpiewak, Marta Bucholc, Karolina Wigura, Jarosław Kuisz. Es moderierte und diskutierte Michał Łuczewski. Unter den großartigen Gästen meldeten sich u. a. zu Wort: Jacek Szymanderski, Jutta Wiedmann, Wojciech Przybylski sowie Anna Maria Wolińska. Es wurde heiß diskutiert, doch lesen Sie selbst!

Die Redaktion

***

Michał Łuczewski: Die Entschließung des Europäischen Parlaments, welche den 23. August zum Totalitarismusgedenktag bestimmt hat, war einer der Versuche, die Teilung in der europäischen Erinnerung zu überwinden. Diese Maßnahme könnte man als rechtlich-politische bezeichnen. Gibt es daneben auch andere Wege, um Teilungen zu überwinden: politische, moralische, historische, wissenschaftliche? Ist eine Überwindung dieser Teilung in Europa sinnvoll?

Karolina Wigura: Ich beginne mit einer Anekdote. Neulich habe ich meine Freundin besucht, die im kleinen bayrischen Städtchen Memmingen lebt. Die Freundin begrüßte mich am Bahnhof. „Ich habe mit meinen Freunden über dich geredet,” sagte sie. „Und die daraufhin: Du kriegst eine Polin zu Besuch? Da musstest du sicher alle Schubladen abschließen?”

Das ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie wenig wir einander kennen. Die Deutschen machen Witze darüber, dass die Polen stehlen. Die Polen darüber, dass die Deutschen Nazis sind. Wir kennen auch die Geschichte der jeweils Anderen nicht. Die Deutschen verwechseln die Aufstände, die in Warschau während des Zweiten Weltkriegs stattfanden. Die Polen haben keine Ahnung davon, wie die Flächenbombardements in Deutschland 1945 aussahen.

Wir leben in einer Wirklichkeit, in welcher der Alltag der europäischen Integration auf merkwürdige Weise koexistiert mit Unwissen über die Nachbarn sowie mit dem Ballast alltäglicher, negativer Stereotype, die in der Sprache, in den Witzen, die wir uns erzählen, in den Alltagsdefinitionen der uns umgebenden Welt stecken. Wir leben außerdem in einem Zeitpunkt des Umbruchs. Wenn Bernhard Schlink richtig gerechnet hat, wird im Jahr 2025 kein einziger Mensch mehr leben, der eigene Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg hat. Wie also sollen wir das europäische Paradigma weiterführen, das sich seit einigen Jahrzehnten auf zwei Säulen stützt: auf die Wirtschaft und auf das Artikulieren vergangener Schuld und vergangenen Leids. Die Entschließung des Europäischen Parlaments ist Ausdruck eines dringenden Erinnerungsbedürfnisses. Aber trägt sie die Lösung dafür in sich?

Jarosław Kuisz: Tatsächlich sprechen wir nicht von einer, sondern von zwei Entschließungen. Die erste wurde vom Europaparlament verabschiedet und es lohnt sich, sich die Diskussion ins Gedächtnis zurückzurufen, die in den Medien in diesem Zusammenhang stattfand. Da ist nämlich das Wort „Kommunismus” aus dem Titel des Dokuments verschwunden. Es wurde durch „Stalinismus” ersetzt. Der Unterschied ist grundlegend. Das fand dann übrigens seinen Niederschlag in den Diskussionen der europäischen Parlamentarier, welche die Teilung in der europäischen Erinnerung sehr gut zum Ausdruck gebracht haben.

Die zweite Entschließung wurde von der parlamentarischen Versammlung der OSZE verabschiedet. Die hat wiederum eine völlig andere Debatte ausgelöst, in der es nicht um Teilungen innerhalb Europas ging, sondern um die Reaktion Russlands auf die Verabschiedung eines solchen Dokuments. Hier ist deshalb die Rede von einer übereuropäischen Ebene.

Michał Łuczewski sprach davon, dass Entschließungen rechtliche Lösungen darstellen. Das stimmt, aber Juristen würden diese nicht ganz ernst nehmen. Denn es handelt sich um Erklärungen ohne Sanktionen.

Wie dem auch sei, beide Entschließungen wurden verabschiedet. Der 23. August soll Europäischer Gedenktag werden. Das Datum erinnert uns an die Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Paktes 1939. Wir können von Anfang an davon ausgehen, dass mit einem Gedenktag, der sich auf diesen Pakt bezieht, in Warschau, in Vilnius, in Paris oder in Madrid unterschiedlich umgegangen werden muss. Angenommen, der Tag wird bei uns hier nur am Rande begangen. Würde das nicht bedeuten, dass wir selbst die derzeitige Teilung aufrechterhalten? Sollten wir selbst nicht dazu in der Lage sein, die einzigartigen Erfahrungen Mittel- und Osteuropas aus der Zeit von 1939-1989 auf eine europäische Ebene zu heben?

Marta Bucholc: Ich möchte gern einen etwas anderen Faden aufnehmen. Die Entschließung des Europäischen Parlaments illustriert auf hervorragende Weise zwei Probleme, auf die das Nachdenken über die Geschichte in Europa stößt. Erstens das Problem: was ist historische Wahrheit. Zweitens: Welche Bedeutung können wir der historischen Wahrheit zuschreiben?

Ich erlaube mir, Textstellen der Entschließung zu zitieren, welche mir besonders im Zusammenhang mit der ersten Frage aufgefallen sind. Erster Punkt: „in der Erwägung, dass Historiker darin übereinstimmen, dass völlig objektive Auslegungen historischer Tatsachen nicht möglich sind und es keine objektive Geschichtsschreibung gibt; jedoch unter Hinweis darauf, dass Berufshistoriker dennoch wissenschaftliche Instrumente zur Erforschung der Vergangenheit einsetzen und dabei bemüht sind, so unparteiisch wie möglich zu sein”. Zweiter Punkt: „in der Erwägung, dass falsche Auslegungen der Geschichte den Nährboden für eine Politik der Ausgrenzung schaffen und damit zu Hass und Rassismus anstiften können”.

Der erste Punkt schreibt, wie Sie sehen, der Wissenschaft eine äußerst große Rolle zu. Das ist die große Rache der Wissenschaft, die von den verschiedensten Relativisten in den vergangenen hundert Jahren so geplagt wurde. Wie man sieht, hat die Wissenschaft diese Anfeindungen in hervorragender Verfassung überstanden. Wir glauben immer noch, dass es die Wissenschaft ist, die mit Hilfe ihrer professionellen Instrumente so objektiv wie möglich aufzeigt, wie die Wirklichkeit aussah, was die Fakten waren, was die Wahrheit war.

Wenn wir nun wissen wollten, wie eine solche Beschreibung historischer Fakten aussehen kann, so sind die Texte Timothy Snyders, dessen „Holocaust: The Ignored Reality” ein Teil von Ihnen gelesen hat, ein hervorragendes Beispiel. Der Text hat eine Eigenschaft, die auf den ersten Blick auffällt: er enthält unglaublich viele Zahlen. Tatsächlich besteht er ausschließlich aus Zahlen. Darüber, wie viele Menschen umgekommen sind, wie viele verschleppt, deportiert, gerichtet, verurteilt worden sind, wie viele aus der Verbannung, aus der Katorga, aus den Gulags zurück gekommen sind. Das sind Fakten. Aber ist das die Wahrheit? Das ist eine ernste Frage, über die wir eine Weile nachdenken sollten, denn wenn die historische Wahrheit das Fundament für den Aufbau der neuen europäischen Identität sein soll, das Fundament für Vergebung sein soll, auf das wir die Gemeinschaft gründen können, müssen wir wissen, worauf wir diese Wahrheit stützen.

Ich persönlich glaube nicht daran, dass Zahlen das Bild der Geschichte ausmachen können. Geschichte ist immer die Geschichte konkreter Personen. Wenn wir das vergessen, wird Geschichte zu einem leeren Begriff und wir verlieren das, was den Sinn historischer Erfahrungen ausmacht.

Die zweite Frage, die ich am Anfang erwähnte, ist die Frage nach der Bedeutung von Wahrheit. Die Entschließung enthält eine Interpretation, der zufolge uns die Kenntnis der Wahrheit, wie in der Bibel, frei macht. Die Wahrheit soll uns freimachen von einer Politik der Ausgrenzung, von Hass, von Rassismus, die Wahrheit erlaubt uns die Versöhnung. Beunruhigend ist jedoch, dass in der Tat nicht nur falsche Interpretationen der Geschichte Hass und Rassismus wecken, uns zur Ausgrenzung anstiften. Auch richtige Interpretationen können ähnliche Folgen mit sich bringen. Gerade in Anbetracht der Fakten könnten wir beginnen, Hass, Ressentiments und Unwillen zu empfinden.

Karolina hat sich auf ihre persönliche Erfahrung berufen und auch ich würde gern auf meine Erfahrung als Schülerin im kommunistischen Polen Bezug nehmen. Das Bild des Zweiten Weltkriegs wurde dort auf sehr einfache Weise dargestellt. Zuerst waren da die Deutschen, die waren böse und haben uns besetzt. Und dann kamen die Russen, Tag des Sieges, grüner Mai, und wir wurden von der Roten Armee befreit. Und ich erinnere mich an die kognitive Dissonanz, die ich empfand, als mir meine Großeltern erzählten, wie sie vor den Russen geflohen waren, wie sie sich vor den Ukrainern fürchteten. Ich wusste mir da keinen Rat. Schließlich waren das Fakten – nur, dass sie bei meinen Großeltern keineswegs positive, zur Versöhnung einladende Gefühle hervorriefen. Ganz im Gegenteil.

Ich glaube, dass dieser Aspekt der historischen Wahrheit in der Entschließung verloren geht. Ich befürchte auch, dass er in den europäischen Diskussionen verloren geht und es uns so unmöglich macht, Reaktionsstrategien auf die historische Wahrheit zu entwickeln, die es uns tatsächlich erlauben, uns richtig zu versöhnen. Dankeschön.

Paweł Śpiewak: Die Entschließung des Europäischen Parlaments beruft sich, meiner Meinung nach, auf zwei Kategorien. Die erste ist die Kategorie des Gewissens. Die zweite ist die Kategorie des Totalitarismus. Beide erfordern, dass wir im Einklang mit dem besten moralischem Recht verstehen und beurteilen können, was im Schatten totalitärer Regime geschehen ist. Dabei können uns drei Fragen helfen.

Erstens: Ist das Datum, der 23. August, das richtige? Das Treffen Ribbentrop – Molotow war der Moment, in dem der Totalitarismus zum ersten Mal zur Gänze sein Gesicht gezeigt hat. Die Bedrohung des Totalitarismus schwebte damals über ganz Europa. Aber wir können die Frage nach anderen entscheidenden Daten der europäischen Geschichte stellen. Da haben wir das Datum, an dem Hitler an die Macht gelangte. Wir haben Daten im Zusammenhang mit der großen Hungersnot in der Ukraine, den Säuberungen, die in den 30er Jahren in der Sowjetunion vorgenommen wurden. Gibt es ein Datum, das weniger willkürlich wäre als andere? Das ist keine technische Frage, denn sie bezieht sich darauf, mit welchem Symbol wir die Erfahrung des Totalitarismus ausdrücken werden und darauf, was bei dieser Erfahrung das Wichtigste ist.

Zweitens: wie ist das Schlüsselwort der Resolution, „Totalitarismus“, zu verstehen? Können wir mit demselben Terminus den Völkermord an den Juden und die Ermordungen unglaublichen Ausmaßes, die zu Zeiten des stalinistischen Russlands oder zu Zeiten Mao Zedongs begangen wurden, erfassen? Wie wir alle wissen, kamen im 20. Jahrhundert in Folge von Kriegen, verschiedenen Säuberungen und Massenterror ca. 185 Millionen Menschen ums Leben. Genügt das Wort Totalitarismus, um das zu erfassen, oder sollten wir auch nach einer anderen Bezeichnung suchen?

Und die dritte Frage, die eine Antwort erfordert: die nach der Besonderheit Mittel- und Osteuropas. Ganz Europa war mehr oder weniger vom Zweiten Weltkrieg betroffen. Fast alle Länder waren von totalitären und autoritären Regierungen betroffen. Aber die mittel- und osteuropäischen Regionen traf ein doppelter Schicksalsschlag – sowohl der sowjetische als auch der deutsche Totalitarismus. Das gab es im Westen nicht. Diese Besonderheit des Leids, die Intensität der Vertreibungen, Erschießungen, der Zerstörung von Menschen, Kultur und materieller Substanz ist für diesen Teil Europas besonders. Wie soll man diese Besonderheit in die westeuropäische Erinnerung aufnehmen?

Michał Łuczewski: Wir haben also mehr Fragen, weniger Antworten, dagegen waren die Antworten, die wir gehört haben, negativ. Jarek Kuisz hat gesagt, dass ein Recht ohne Sanktionen nicht funktioniert. Kann also Recht verbinden? Sicher nicht. Marta hat davon gesprochen, dass obwohl uns die Geschichte der Zahlen verbinden kann, die wirkliche Geschichte die Geschichte von Personen ist, und die wiederum kann trennen. Aus diesen Teilantworten würde hervorgehen, dass es eher keine Möglichkeit gibt, die Teilungen zu überwinden.

Aber aus dem, was Karolina gesagt hat, verspüre ich das Bedürfnis, die Teilungen zu überwinden, die Deutsche und Polen trennen. Wir spüren, dass da etwas nicht in Ordnung ist, dass wir auf den Anderen zugehen sollten, auf den Vertreter anderer Nationen und Gemeinschaften, aber wir finden keinen Weg, der unserem Verlangen nach Verständigung gerecht werden würde. Deshalb würde ich gern die Frage stellen: Existieren andere Wege, auf den Anderen zuzugehen und Teilungen in der Erinnerung zu überwinden? Ich gebe diese Frage an Sie weiter und bitte zuerst unser Publikum, sich zu Wort zu melden.

Jacek Szymanderski: Meiner Meinung nach lohnt es sich, über Folgendes nachzudenken: Geschichte ist, wie Karl Mannheim gesagt hat, rückwärts betriebene Politik. Wenn ich die Äußerungen der Vertreter der jungen Generation der Podiumsteilnehmer richtig verstanden habe, würde es darum gehen, von einer so verstandenen Geschichte loszukommen. Ziel der Einrichtung eines Gedenktages am 23. August wäre nicht die Erinnerung daran, wer uns welches Leid zugefügt hat, denn das wissen wir schon. Es würde eher darum gehen, in den Kategorien des so genannten humanistischen Koeffizienten zu denken, und somit die damaligen Entscheidungsträger verstehen zu können. Wie war es möglich, in einem geräumigen Arbeitszimmer zu sitzen und die unterschiedlichsten, ganz und gar unglaublichen Verbrechen zu planen? Aber so geschah das bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein! Denken wir auch daran, dass schließlich die Deutschen, die hier waren, die mordeten und alles zerstörten, was nicht deutsch war, dies unter dem Schlagwort der kulturellen Sendung taten. Es ist äußerst wichtig, dies zu verstehen und nicht allein zu verurteilen. Nur der humanistische Koeffizient kann uns eine Einheit der Erinnerung bringen.

Wojciech Przybylski: Ich persönlich sehe keine Möglichkeit, Verständigung auf Bezügen auf Vergangenheit, Empathie oder die Erforschung von Fakten aufzubauen. Vor allem deshalb, weil Geschichte lernen vor allem im Aufbau der eigenen Identität besteht. Wir lernen etwas über uns selbst und nicht über den anderen Menschen. Die Geschichte hilft uns also nicht dabei, andere zu verstehen. Europa baut, indem es solch eine Entschließung verfasst, ähnlich wie indem es die Morde an den Kurden verurteilt, an seiner eigenen Identität, aber sucht nicht nach Verständigung, sucht keine Öffnung. Aus diesem Grund sind Diskussionen aufgekommen, zum Beispiel über die Reaktionen Russlands auf die Entschließung.

Was dagegen den Text Snyders angeht, auf den sich Marta bezieht, hat dieser nicht deshalb große Auseinandersetzungen hervorgerufen, weil er sich auf Zahlenmaterial bezieht. Tatsächlich schreibt Snyder über die zielgerichtete Politik der Massenmorde und darauf bezieht er sich, und führt die Zahlen nur als Beispiele dafür an, dass die Totalitarismen ihr furchtbarstes Gesicht in den „fernen“ Wäldern Mittel- und Osteuropas zeigten. Solche Texte haben eine viel größere Bedeutung als Entschließungen des Europäischen Parlaments. Sie helfen der Verständigung und nehmen keinen politischen Standpunkt ein.

Anna Maria Wolińska: Ich habe das Datum des 23. August als ein Datum verstanden, das an das Treffen zweier furchtbarer Mächte erinnert und daran, dass beide Totalitarismen gleichermaßen schrecklich waren. Wir vergessen das nach wie vor, denn während der Hitlerismus nur zwölf Jahre dauerte, bestand der Bolschewismus ganze 70 Jahre fort! Ständig scheint uns der Kommunismus besser gewesen zu sein, weil seine Idee so schön war. Dass diese beiden Mächte zusammen gezeigt wurden, das war es meiner Meinung nach, was die Russen so tief getroffen hat. Die gesamte russische Propaganda stützt sich schließlich darauf, dass die edle Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg gegen den ungeheuerlichen Hitler gewonnen hat.

Das Datum kann dazu geeignet sein, dass sich der Rest der Welt, der Nazismus und Kommunismus nicht am eigenen Leib erfahren hat, Gedanken machen kann. Es ist heute auch sehr schwer, der jungen Generation zu erklären, was sich während der Zeit der Besatzung auf den Straßen Warschaus oder Krakaus abspielte. Es ist schwer, den Mob zu begreifen, der 1939 in die polnischen Ostgebiete zog. Ich stamme aus Wolhynien und meine Familie musste damals von dort fliehen. Aber ich mache den normalen Russen keine Vorwürfe. Ich habe ihnen vergeben, genauso wie ich den Deutschen vergeben habe, die uns danach zu Beginn des Warschauer Aufstandes aus dem Haus warfen.

Anna Skiba: Mir scheint das Problem sehr wichtig zu sein, das Marta Bucholc in ihrem Beitrag angesprochen hat: Macht die Wahrheit tatsächlich immer frei? Der Gedanke, dass das so sei, ist in moralischer Hinsicht immer der bequemste. Aber während meines Aufenthalts in Deutschland als Erasmusstipendiatin ist mir aufgefallen, dass in der jungen Generation Versöhnung nicht nötig ist. Es war nicht nötig, mit meinen deutschen Altersgenossen über Erika Steinbachs Handeln oder über Konflikte zwischen Polen und Deutschland zu reden. Es wird also ein Dilemma sichtbar. Leben bestimmte Antagonismen nicht wieder auf, wenn wir mit dem Unterricht zum Thema Totalitarismus beginnen?

Filip Żuchowski: Mir scheint manchmal, dass wir, um eine gemeinsame europäische Erzählung und Erinnerung zu schaffen, bestimmte schwierige Themen übergehen müssten. Sind wir bereit dazu? Natürlich existiert ein solcher Wert wie historische Wahrheit. Aber diese kann Konflikte auch schaffen und nicht nur glätten.

Anna Maria Wolińska: Mir scheint, man darf historische Fakten eben nicht übergehen. Deren Interpretation ist etwas anderes. Aber die Fakten müssen zur Kenntnis genommen werden – und wir sollten die einen nicht den anderen feindlich gegenüberstellen. Wir müssen sie schlicht annehmen.

Józef Wit: Ich gehöre zur mittleren Generation unter den hier Anwesenden. Ich bin nicht einverstanden mit der Definition von Geschichte, die Wojciech Przybylski gegeben hat. Geschichte ist die Wissenschaft von den Bedingtheiten der Vergangenheit, die zukünftige Zeiten betreffen. Das dürfen wir nicht vergessen. Sie dagegen haben, wie mir scheint, Ihren Standpunkt etwas aus einer egoistischen Position heraus vertreten. Außerdem hat sich die Diskussion in einem bestimmten Augenblick hin zu einer Verdunkelung von Geschichte und dem Mangel an Verantwortungsgefühl hin gedreht. Meine Damen und Herren, ich bin der jüngste Sohn des letzten Kommandanten des dritten Bezirks der Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) im Warschauer Aufstand 1944. Ich habe den Krieg bis heute in mir, trotz des Systemwechsels, trotz verschiedener anderer Geschichten. Und ich kann nicht verstehen, warum Sie versuchen, die Spuren zu verwischen, zum Beispiel davon, dass 35 Prozent des polnischen Volkes ermordet wurden. Anna Maria Wolińska hat diese Frage vorsichtig berührt. Ich sage es stärker: Wir dürfen nicht vergessen und wir müssen das Wissen verbreiten und daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen.

Michał Łuczewski: Ich bin überzeugt, dass es hier niemandes Absicht war, die Vergangenheit zu verdunkeln.

Jasmin Harre: Wir dürfen die Vergangenheit nicht ausschließlich als Quelle für Konflikte betrachten. Schon der Konsens, den wir heute haben, rührt aus der Vergangenheit. Ich bin überzeugt davon, dass wir in der Lage sind, reflexiv an die Vergangenheit heranzugehen und die Ergebnisse dieser Reflexion anschließend in einen gemeinsamen Diskurs einfließen zu lassen.

Michał Łuczewski: Damit sind wir am Ende der ersten Diskussionsrunde. Ich gebe nun unseren Podiumsteilnehmern die Gelegenheit zu antworten.

Marta Bucholc: Ich denke, dass der letzte Beitrag dem etwas nahe kam, was Jacek Szymanderski vorher über Mannheim und den humanistischen Koeffizienten Znanieckis gesagt hat. Ich erlaube mir, daran zu erinnern, dass Karl Mannheim aufrichtig daran glaubte, dass die Sozialwissenschaften, und vor allem die Soziologie, uns in die Lage versetzen können, Unwahrheiten, die in der Geschichte enthalten sein können, auszumerzen.

Und wenn die Rede davon ist, dass wir uns reflexiv auf die eigene Geschichte beziehen können, dass wir über diesen Luxus verfügen, dass wir uns eine solche Haltung leisten können, ähnelt das ein wenig dem Postulat, den humanistischen Koeffizenten auf die Geschichte anzuwenden. Der humanistische Koeffizient, um Sie nicht zu langweilen, besteht in folgendem Vorgehen: Ich betrachte ein soziales Ereignis, beobachte, wie sich Leute zu diesem verhalten und versuche zu verstehen, was das für sie bedeutet. Znaniecki war der Meinung, dass die sozialen Tatsachen jemandes Tatsachen, „jemandes Eigentum“ sind. In diesem Sinne ist auch die Geschichte jemandes Eigentum. Aber wessen Eigentum ist sie mehr? Wenn wir über eine gemeinsame, europäische Geschichte nachdenken, stehen wir vor Situationen, die sich unterschiedliche Personen auf völlig unterschiedliche Weise angeeignet haben. Ein Soldat der Roten Armee, der Berlin einnimmt, konnte tatsächlich tief davon überzeugt sein, dass er diverse Völker befreit. Und ein Deutscher konnte in demselben Augenblick überzeugt davon sein, dass er Opfer eines feindlichen Einfalls ist. Diese Überzeugungen sind ihr Eigentum, ihre Wahrheit, der Sinn, den sie ihrem Handeln verleihen.

Und deshalb bin ich mir nicht sicher, ob uns der humanistische Koeffizient hier heraushilft. Möglicherweise führt jene reflexive Haltung dazu, dass wir dieses sehr wichtige Element des Erlebens von Erfahrungen als etwas Eigenes und Authentisches vergessen. Das vielleicht, wovon Karolina sprach, dass es bald niemanden mehr geben wird, der sich selbst an den Krieg oder den Kommunismus erinnert – Ihre Aussage, Herr Wit, stellt die Sache in einem gänzlich anderen Licht dar, da sich die Erfahrungen in den nachfolgenden Generationen reproduzieren.

Karolina Wigura: Als erstes würde ich gern auf die Fragen zurückkommen, die Paweł Śpiewak gestellt hat. Das waren sehr wichtige Fragen, aber es fehlt noch eine grundlegende Frage: Wer soll sich erinnern? Marta hat von der sich reproduzierenden Erinnerung gesprochen. Aus Studien zur Erinnerung der so genannten zweiten und dritten Generation der Kinder des Holocaust oder von Zeugen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien und ihrer Kinder wissen wir, dass die Erinnerung in jeder Generation anders aussieht. Vielleicht haben die Teilnehmer des vom Stefan-Starzyński-Institut organisierten Seminars zur Erinnerung deshalb gesagt, dass sie sich fragen, ob ihnen die Geschichte noch zu etwas nütze ist.

Vorerst ist das Paradigma Europas immer noch die Formulierung „Nie wieder“. Aber schauen wir: wenn Frau Anna Maria Wolińska sie ausspricht, weiß sie genau, wovon sie spricht, weil sie sich auf die eigenen Erfahrungen bezieht. Wenn nun Herr Józef Wit die gleichen Worte ausspricht, bezieht er sich auf die in ihm sehr lebendigen Erinnerungen seines Vaters. Aber wenn ich das sage, bin ich mir, ehrlich gesagt, nicht sicher, welche Bedeutung diese Worte haben. Weil ich selbst schon zur dritten Generation gehöre.

Das ist für uns eine ersthafte Herausforderung. Wenn sich das gemeinsame Europa nicht auf die Geschichte stützen soll, müssen wir für Europa ein anderes Paradigma finden. Aber welches sollte das sein? Die Wirtschaft, der Lebensstil, die Kultur, Brüssel?

Zweitens hat Marta ein sehr interessantes Argument angeführt: wenn bestimmte Fakten besonders schwierig sind, dann verlieren sie womöglich ihre „befreiende Kraft“. Aber haben wir nicht auch in Bezug auf die eigene Geschichte unterschiedliche Ansichten? Die Polen streiten sich seit Jahrzehnten über den Ausbruch des Warschauer Aufstandes. Heißt das, dass wir die mit ihm verbundenen Fakten nicht kennenlernen sollten? Moderne Geschichtslehrbücher zeigen unterschiedliche Seiten einer Auseinandersetzung auf. Die Unterrichtsstunden bestehen im Folgenden aus der Arbeit auf der Basis dieser Argumente. Die deutsch-polnischen Geschichtsbücher, die gerade entstehen, sollen nach ähnlichen Prinzipien geschrieben werden. Die Schüler, die die Fakten kennen, werden über deren Interpretation streiten. In diesem Fall würde ich mir über die Fakten eher keine Gedanken machen. Erinnern wir uns daran, was Hannah Arendt in einem ihrer Essays schreibt: Wir können uns über Interpretationen streiten, aber niemand wird je behaupten, dass Belgien in Deutschland eingefallen sei.

Eine letzte Bemerkung. Jemand von Ihnen hat gesagt, dass die Geschichte die Zukunft sei. Ich sage es anders: Europa ist die Zukunft. Das, was wir heute in Europa vollbringen, wird für die künftigen Generationen bestimmt sein. Ein grundlegendes Problem des Generationenumbruchs, in dem wir leben, ist, dass sich die Werkzeuge, die wir bisher in Europa zum Zwecke der Versöhnung eingesetzt haben, beispielsweise politische Erklärungen des Vergebens, erschöpft haben. Es gibt immer weniger Menschen, die eine unmittelbare Erinnerung an das Leid haben oder selber Täter waren. Aber es können sich nur Menschen vergeben, zwischen denen etwas Böses existierte. Jedoch lehren uns politische Vergebungserklärungen noch etwas sehr wichtiges. Wenn wir Bilder anschauen, auf denen Willy Brandt kniet, oder sich Charles de Gaulle und Konrad Adenauer an den Händen halten, trifft uns die Stärke ihrer Gesten. Wir haben eine schwierige Geschichte. Aber wir sind alle Menschen, wir sind alle Europäer, wir alle haben dieselben Gefühle, sind fähig zu denselben Gesten. Das ist meiner Meinung nach eine große Lehre für uns für die Zukunft.

Marta Bucholc: Ich möchte nur hinzufügen, dass Hannah Arendt in einem anderen Essay über ein Gespräch schreibt, dass sie kurz nach dem Krieg mit einer Deutschen (die sie als sehr intelligent beschreibt) führte. Die Frau sagte ihr, dass der Krieg seinen Ausgang in der russischen Aggression auf Danzig genommen habe. Ich denke, dass es mit Sicherheit möglich ist, dass jemand sagt, Belgien sei in Deutschland eingefallen. Wahrscheinlich gab es Menschen, die das behaupteten. Die Frage besteht darin, wer das sagen wird, wie oft, wie laut und an wie vielen Orten.

Paweł Śpiewak: Mit Geschichte arbeiten, nicht im akademischen, im Schulbuchsinne, aber in dem Sinne, wie sie zu einem Teil des Kollektivbewusstseins wird, ist unabwendbar ein auf Teilung ausgerichtetes Handeln. Das ist natürlich und geradezu unabwendbar. Jede Geschichte ist immer eine Konstruktion der Vergangenheit. Die Entschließung des Europäischen Parlaments ist meiner Meinung nach ein Anlass, um sich darüber Gedanken zu machen, dass wir Teilungen schaffen müssen, da es keine Fakten im objektiven Sinne gibt, sondern nur Ereignisse, die wir aus der Vergangenheit hervorholen und denen wir den Status eines wichtigen Ereignisses verleihen.

Da uns die Geschichte trennen muss, kann uns die Zukunft verbinden, in Gestalt eines Projektes oder auch von Idealen. Können wir aus der Geschichte jedoch auch etwas machen, dass uns zwar trennt, aber auf eine Weise auch verbindet? Ich denke, dass die Untersuchung der eigenen Verantwortung, der eigenen Fehler und Schuld eine solche Möglichkeit bietet. Eine so verstandene, von den Europäern geschriebene Geschichte ist gänzlich anders als die nichteuropäische Geschichte. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte zweier Staaten, die Europa nicht beitreten können, nicht deshalb, weil sie sich für dieses Europa nicht eignen würden, sondern deshalb, weil sie die europäische Perspektive nicht teilen: die Türkei und Russland.

Die Türkei vermag sich nicht zum Völkermord an den Armeniern zu bekennen, den sie während des Ersten Weltkriegs begangen hat. Allein die Tatsache, dass die Türkei die Menschenrechte in seine Gesetze aufnimmt und diese ausführen wird, ist zwar bereits ein großer Erfolg. Sie stellt jedoch kein hinreichendes Kriterium dar, welches es diesem Staat erlauben würde, Europa beizutreten. Auch Russland kann letztlich nicht mit dem Nachdenken über die eigene Vergangenheit umgehen, wie man daran sieht, wie es die Entschließung des Europäischen Parlaments aufgenommen hat. Es fürchtet sich davor, die eigene Geschichte zu lesen.

Jarosław Kuisz: Die Entschließung des Europäischen Parlaments ist mit Sicherheit ein Anlass zum Nachdenken. Als sie herauskam, verzeichneten sie die wichtigsten Tageszeitungen in Polen und auf der Welt im Hinblick auf die Reaktion Russlands. Aber ist sie ein Ereignis, über welches eine breitere Diskussion oder Debatte geführt werden wird?

Ich kehre nun zu der These zurück, die sich durch einige Beträge gezogen hat: dass die Geschichte verschwinde, derweil Versöhnung darin bestehen werde, gemeinsam Eis essen, ins Kino oder in die Disko zu gehen – und dass das genüge. Nun, das wäre sehr verlockend, wenn es da nicht die Lehre aus den polnisch-ukrainischen Beziehungen gäbe. Polen hat versucht und versucht es immer noch, gegenüber der Ukraine eine bestimmte Politik zu betreiben, die mit Sicherheit zu Bruch gehen muss. Man kann die Frage des Blutbads in Wolhynien nicht sinnvoll lösen, wenn man Versöhnung zentral anstatt lokal „erledigt”. Erinnern wir uns daran, dass während der Feierlichkeiten zur „Versöhnung” in Pawłokoma die lokale polnische Bevölkerung überhaupt keine Versöhnungsabsichten bekundete. Dagegen hat man sich lieber darüber gestritten, wie viele Namen sich auf dem Denkmal der ermordeten Ukrainer und Polen befinden.

Was die Diskussion angeht, die die Kenntnis der historischen Fakten hervorrufen wird, so stimmen wir doch überein, dass wenn unser Modell gemeinsamen Lebens die – diskutierte aber dennoch – liberale Demokratie ist, so ist deren Fundament die Meinungsvielfalt. Wir brauchen uns übrigens keine Sorgen darum zu machen, dass Tatsachen ans Tageslicht gelangen. Erst vor kurzem haben wir erfahren, dass Jurij Andropow bereits nach dem Stalinismus versucht hat, die Gräber der polnischen Soldaten in Katyń mit Kalk zuzuschütten. Und doch hat das nichts genutzt.

Der Bezugspunkt für die Entschließung des Europaparlaments ist mit Sicherheit die Frage, wie die Erinnerung an die nächste Generation weitergegeben wird. Die wichtigsten Gedanken, die in diesem Zusammenhang auftauchen, betreffen das kosmopolitische Europa, wie im Falle der Theorie von Ulrich Beck und Anthony Giddens. Ihnen zufolge muss sich Europa bewusst werden, dass es kein alter, sondern ein neuer Kontinent ist. Deshalb erscheint die Frage ziemlich wichtig, wie wir Europa bauen sollen, wenn ein Generationenwechsel ansteht, zumal das, was ein riesiges Trauma für die Großelterngeneration darstellte, für die Enkel oder Urenkel aufhört zu funktionieren.

Denken wir schließlich an eines. Mit einigen können wir in der Tat beim Bier Stereotype durchbrechen. Doch man kann nicht jeden und man kann sich nicht immer treffen. Die Entschließung des Europäischen Parlaments ist an diejenigen gerichtet, die wir nicht treffen. Aber lässt sich Europa auf einer abstrakten Erinnerung aufbauen, die durch Pathos und geradezu mit Worthülsen Entsetzen hervorruft? Ist das alles, was uns bleibt?

Karolina Wigura: Ich würde gern an eine Sache erinnern, die in Polen noch kein Thema ist, dafür aber schon in Westeuropa. Wenn wir die Zukunft der europäischen Identität auf der Geschichte aufbauen wollen – und das halte ich für wichtig – müssen wir an die Immigranten denken. Die islamische Minderheit in Europa wächst zahlenmäßig, und der Integrationsprozess ist aus verschiedenen Gründen erschwert. Die Geschichte Europas ist nicht ihre Geschichte, noch dazu ist der gegenwärtige Islam in seiner Hauptströmung nicht an jenem Lesen der eigenen Geschichte interessiert, von dem Paweł Śpiewak sprach. In diesem Sinne ist die Entschließung des Europaparlaments ein guter Anlass, um die Verantwortung für eine grundlegende Aufgabe, nämlich die Lehrpläne für Geschichte in den europäischen Schulen neu zu schreiben, von sich abzuwälzen.

Michał Łuczewski: In dieser Diskussionsrunde gab es zwei neue Stimmen, die davon gesprochen haben, auf welche Weise wir Verständigung suchen sollten. Karolina Wigura hat davon gesprochen, dass wir Verständigung durch politische Gesten, durch Akte der Vergebung suchen können, aber gleichermaßen hat sie betont, dass sich diese in der uns bisher bekannten Form erschöpft haben. Die zweite Stimme, Paweł Śpiewak, betraf den Punkt, dass wir nur dann mit jemandem Verständigung erreichen können, wenn wir die Verantwortung für unsere Geschichte übernehmen. Problematisch dabei ist jedoch, dass dies bestimmte Gemeinschaften, die türkische oder die russische, aus unserem Kreis ausschließt. Ich bitte um weitere Beiträge.

Jacek Szymanderski: Ich berufe mich auf noch einen Klassiker. Jürgen Habermas ist der Ansicht, dass Tradition diejenigen Elemente sind, die eine Gemeinschaft aus der Vergangenheit auswählt, um seine Zukunft zu bauen. Denken wir nun, mit dieser Meinung im Hinterkopf, an die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft. Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre war es schwierig, eine so verstandene Tradition als Grundlage für das neue Europa zu finden. Trotzdem ist ihnen das durch den Bezug auf die christliche Ethik, die Menschenrechte und die individuelle Freiheit gelungen. Es geht also darum, dass auch wir in der Lage sind, diejenige Tradition zu finden, die nicht in nationalistische Geschichte verstrickt ist. Wir müssen das tun, wenn der 23. August tatsächlich eine Bedeutung für Europa haben und nicht nur etwaiges Argument beim Treffen mit Putin am ersten September sein soll.

Łukasz Bukowiecki: Ich würde gern an den zeitgeschichtlichen Unterricht in den Schulen anknüpfen. Was lernen wir im Unterricht? Die Antwort lautet: nichts! Selbst wenn die jüngste Geschichte im Lehrplan steht, so reicht doch niemals die Zeit dafür und sie wird in die letzte Klassenstufe verschoben. Das kann man mit der Beschaffenheit des Systems erklären, aber vielleicht verzögern die Lehrer absichtlich den Unterrichtseinstieg in das 20. Jahrhundert, um große Emotionen und große politische Äußerungen während des Unterrichts mit den Schülern zu vermeiden? Es ist viel bequemer, den äußerst blutigen und furchtbaren Dreißigjährigen Krieg zu behandeln, weil da kein einziger Zeuge mehr am Leben ist.

Florian Kellermann: Ich möchte gern mit den Begriffen Versöhnung (pojednanie) und Verständigung (porozumienie) polemisieren. Bedeutet Versöhnung, dass alle „Einheit“ (jedność) empfinden? Das ist nicht möglich, schließlich empfinden die Deutschen selbst in ihrem Kreis nicht so. Vielleicht wäre es wichtiger, eine gemeinsame Regel des Nachdenkens und Sprechens über Geschichte aufzustellen: was halten wir für gut und was für schlecht, was gilt es zu verurteilen, was zu loben. Sicherlich lässt sich auch eine Diskussionsregel aufstellen, zum Beispiel, wer sich wann zu Wort melden sollte. Und vielleicht gemeinsame Prämissen des Nachdenkens über die eigene Geschichte.

Jutta Wiedmann: Ich möchte etwas zu Florians Beitrag sagen. Ich denke, dass es möglich sein muss, solche Regeln aufzustellen, nur ist das sehr schwierig. Das Stefan-Starzyński-Institut hat eine polnisch-deutsche Sommerschule organisiert, die der Erinnerung gewidmet ist. Es fanden Workshops dazu statt, wie Deutsche und Polen bestimmte Schlagworte verstehen, z.B. Krieg, Nation, Patriotismus. Es zeigte sich, dass wir uns sehr von einander unterscheiden – aber das ist erst der Anfang eines Weges, gemeinsame Regeln für das Sprechen und Nachdenken über Geschichte aufzustellen, der Anfang eines Weges zur Verständigung. Meiner Meinung nach ein unerhört wichtiger Weg.

Michał Kajta: Das, was uns verbindet, kann auch ein gemeinsamer Traum sein. In Europa kann dies eine Welt ohne Gewalt sein. Dies lässt sich mit dem Unwillen europäischer Staaten begründen, in verschiedene Konflikte auf der Welt einzugreifen. Und auch mit der Einstellung der jungen Leute in Europa, die wir mit der Idee der Menschenrechte verbinden können. Deshalb habe ich irgendwie den Eindruck, dass Europa nicht geteilt ist.

Anna Maria Wolińska: Ich habe Hochachtung vor den deutschen Jugendlichen, die dieses schwere Thema auf sich genommen haben. Dass sie versucht haben, etwas von den Verbrechen der Eltern oder Großeltern wieder gut zu machen – dass sie dieses schreckliche Bewusstsein auf sich genommen haben. Denn Polen sind ebenso Kinder verschiedener Mörder. Das ist schwer anzunehmen, aber das müssen wir annehmen.

Michał Łuczewski: Zum Schluss möchte ich noch hinzufügen, dass es noch eine Versöhnungsstrategie gibt: die Strategie sich zu treffen und sich vielleicht sogar zu streiten. Marta Bucholc hat gesagt, dass Zahlen keine Bedeutung haben. Ich denke aber, dass sie in einem Fall doch eine Bedeutung haben: Sie sind so zahlreich hier erschienen, dass die Diskussion wirklich heiß vonstatten ging. Vielen Dank an das Publikum und an unsere Podiumsteilnehmer. Einen großen Beifall!

***

Teilnehmerinnen und Teilnehmer:
Marta Bucholc, Doktor der Soziologie.
Łukasz Bukowiecki, Teilnehmer der Sommerschule „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts in Polen und Deutschland”.
Jasmin Harre, Teilnehmerin der Sommerschule „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts in Polen und Deutschland”.
Michał Łuczewski, Doktor der Soziologie, wissenschaftlicher Betreuer des Projekts „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts in Polen und Deutschland”.
Michał Kajta, Soziologe.
Florian Kellermann, unabhängiger deutscher Journalist, arbeitet in Polen.
Jarosław Kuisz, Chefredakteur der „Kultura Liberalna”.
Wojciech Przybylski, Herausgeber der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift „Res Publica Nowa”.
Anna Skiba, Teilnehmerin der Sommerschule „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts in Polen und Deutschland”.
Jacek Szymanderski, Politiker, in der Volkrepublik Polen in der Opposition aktiv, Soziologe, Abgeordneter des Sejm 1989-1991.
Paweł Śpiewak, Professor für Soziologie.
Jutta Wiedmann, Koordinatorin des Projekts „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts in Polen und Deutschland”.
Karolina Wigura, Doktorandin am Institut für Soziologie der Universität Warschau und am Institut für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Józef Wit (Pseud.), Sohn Stanisław Lubańskis, Pseud. „Wit”, Kommandant des 3. Bezirks der Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) Wola während des Warschauer Aufstands.
Anna Maria Wolińska, während des Zweiten Weltkrieges Flüchtling aus Wolhynien.
Filip Żuchowski, Teilnehmer der Sommerschule „Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts in Polen und Deutschland”.

Übersetzung aus dem Polnischen: Christina Hohlbein

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(34/2009)
7 września 2009

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