Wersja polska / polnische Version ]

Sehr geehrte Damen und Herren,

die „Krise“ war einst das täglich Brot östlich der Berliner Mauer – heute ist sie in Europa allgegenwärtig. Man könnte ironisch fragen: Ist nun auch das letzte Überbleibsel des kalten Krieges verschwunden? Haben wir uns an die permanente Krisen-Rhetorik gewöhnt?

Für den Anfang nehmen wir einmal an, dass in Europa eine dreifache Krise herrscht. Die erste war die internationale Rezession, mit der wir uns seit 2008 herumschlagen. Die zweite war die allgemeine Krise der politischen Führung in den demokratischen Staaten, die sich nicht nur in der Vereinten Gemeinschaft wahrnehmen lässt. Die dritte Krise sind die gewaltigen Probleme, mit der die Eurozone heute zu kämpfen hat.

Obwohl der Lebensstandard in vielen europäischen Ländern auf einem hohen Niveau geblieben ist, gibt es Stimmen, die behaupten, dass das Leben in der Europäischen Union immer mehr an einen Alptraum erinnert. Es genügt mit den Einwohnern der Länder zu sprechen, die von englischsprachigen Ländern beleidigend „PIGS“ (für Portugal, Italien, Griechenland und Spanien) genannt werden, um sich davon zu überzeugen, dass an dieser Behauptung eine Menge dran ist.

Als Heilmittel für diese Probleme werden verschiedene Lösungen vorgeschlagen, die zumeist in irgendeiner Form den wirtschaftlich und politisch sicherlich mächtigsten Staat in Europa betreffen, sprich Deutschland. Einer dieser Lösungsvorschläge wurde kürzlich von George Soros in dem Magazin „The New York Review of Books” [http://www.nybooks.com/articles/archives/2012/sep/27/tragedy-european-union-and-how-resolve-it/] beschrieben. Laut Soros soll sich Deutschland für einen von zwei Wegen entscheiden. Jeder dieser Wege kann seiner Meinung nach die Eurozone retten, und auf längere Sicht somit auch die Europäische Union.

Der erste Weg besteht darin, die Eurozone zu verlassen. Zwar wäre das für Deutschland sehr kostspielig, aber die Länder, die die gemeinsame Währung beibehalten würden, wären dadurch gezwungen, sich gegenseitig eiserne finanzielle Disziplin aufzuerlegen – das könnte unter dem Strich die EU retten. Die zweite Lösungsvariante würde darin bestehen, dass Deutschland die Rolle, die ihm durch die internationale Situation sowieso nahegelegt wird, annimmt: die Vormachtstellung in der Europäischen Union.

Es ist offensichtlich, dass Soros’ Vorschlag kontrovers ist. Sowohl das Verlassen der festen Bindungen, die die Europäische Union zusammenschweißt, als auch die Übernahme der Vormachtstellung durch einen Staat, dessen zweimaliger Angriff im 20. Jahrhundert noch immer im europäischen kulturellen Gedächtnis präsent ist, sind Lösungsvorschläge, die für viele nicht annehmbar sind. Deshalb fragen wir heute nach der Rolle Deutschlands in der EU. Kann und will Deutschland die Vormachtstellung annehmen? Ist einer von Soros’ Lösungsvorschlägen für die übrigen 26 Staaten akzeptabel? Oder gibt es vielleicht andere sicherere, bessere und weitsichtigere Möglichkeiten?

Ivan Krastev, Leiter des Zentrums für liberale Strategie in Sofia, ist der Meinung, dass keiner der eingebrachten Vorschläge Zukunft hat, weil Deutschland sich einfach nicht auf sie einlassen wird. Krastev erläutert, inwiefern das Verhältnis Deutschlands zur Transformation der Wirtschaften in Mittelosteuropa diesen Standpunkt beeinflusst. Clyde Prestowitz, Gründer und Präsident des „Economic Strategy Institute“ (ESI) in Washington, wirft Deutschland vor, dass es nicht bereit ist, eine bedeutsamere Rolle in der EU zu übernehmen. Er schlägt vor, dass Deutschland unter anderem sein Verhältnis zur Bankenunion und den EU-Anleihen ändern soll. Karolina Wigura von der Redaktion „Kultura Liberalna“ hingegen zeigt, dass die Europäische Union heute wesentlich dringender als eine Vormacht Demokratisierung und das Engagement der jungen Menschen braucht, die gegen die ACTA protestieren und sich für die Occupy-Bewegung engagieren. Dazu jedoch, so Krastev, braucht es nicht die Zustimmung Deutschlands.

In dieser Ausgabe spricht Jakub Stańczyk mit Gertrud Höhler über das kontroverse Buch „Die Patin“. Höhler versucht, die These zu untermauern, dass Angela Merkel in Deutschland ein immer autoritäreres Regierungsmodell etabliert.

Das vorliegende Thema der Woche eröffnet eine Reihe, die gemeinsam mit der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und der Kultura Liberalna im Rahmen eines deutsch-polnischen Projektes über die Zukunft der Europäischen Union erarbeitet wurde. Schon bald folgen weitere Ausgaben!

Viel Freude bei der Lektüre!

Karolina Wigura


1. IVAN KRASTEV: Die neue deutsche Radikalität
2. CLYDE PRESTOVITZ: Ohne ein starkes Deutschland ist die Stabilität Europas gefährdet
3. KAROLINA WIGURA: Europa braucht Demokratie, keine Vormachtstellung
4. GERTRUD HÖHLER: Die Königin Europas ist ohne Nachfolger


Ivan Krastev

Die neue deutsche Radikalität

Oft wird vergessen, dass das politische System der Bundesrepublik Deutschland nicht nur auf der Angst vor Totalitarismus aufbaut, sondern auch auf der Angst vor Demokratie: Schließlich hatte Hitler freie Wahlen gewonnen. Das ist der Grund dafür, dass die Furcht vor Populismus und Extremismus in der Politik in Deutschland stärker ist als anderswo.

Die Ordnung des Kalten Krieges stützte sich auf vier Staaten, über die sich wohl alles sagen lässt, außer, dass sie normal sind. Das waren die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Deutschland und Israel. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete für sie einen Versuch der Normalisierung. Russland hat sie nicht ohne Probleme vollzogen – heute jedoch, mag einem Russlands Normalität gefallen oder nicht, gibt es in diesem Staat nicht viel Außergewöhnliches, und er will auch keine solche Rolle spielen. Etwas anders sieht es bei den Vereinigten Staaten und Israel aus. Die Normalisierung der USA ist nicht gänzlich möglich, denn noch immer sind sie einer der wichtigsten Punkte auf der heute multipolaren Weltkarte. Israel hingegen könnte, wollte es Normalisierung einführen, damit sein eigenes Überleben unmöglich machen.

Am schnellsten und mit den geringsten Schwierigkeiten hat sich Deutschland normalisiert. Seine Normalisierung beruht paradoxerweise zum Großteil auf der Beschränkung von Demokratie. Oft wird vergessen, dass das politische System der Bundesrepublik Deutschland nicht nur auf der Angst vor Totalitarismus aufbaut, sondern auch auf der Angst vor Demokratie: Schließlich hatte Hitler freie Wahlen gewonnen. Wir wissen das jedoch nur theoretisch, während Deutschland diese Erfahrung tatsächlich gemacht hat. Aus diesem Grund ist die Furcht vor Populismus und Extremismus in der Politik in Deutschland stärker als anderswo. Aus dem gleichen Grund garantiert das deutsche Grundgesetz solchen Institutionen die meisten Rechte, die nicht durch freie Wahlen entstanden sind: der Bundesbank und dem Verfassungsgericht.

Aus all diesen Gründen ist Deutschland heute in der Lage, der Europäischen Union weder die Übernahme der Vormachtstellung, noch das Verlassen der Eurozone anzubieten, sondern Demokratie, die allerdings noch eingeschränkter wäre, als in Deutschland selbst. Im Grunde ist das in der EU herrschende politische System für Deutschland aus dieser Sicht am besten geeignet. Dahinter steht etwas äußerst Radikales, was sich leicht übersehen lässt. Denn der Vorschlag Deutschlands besteht darin, ökonomische Entscheidungen außerhalb des Bereiches zu treffen, in dem Entscheidungen unter Beteiligung der Wähler getroffen werden.

Woher kommt so ein Vorschlag? Während man in den Neunzigerjahren der Meinung war, Polen und andere Länder der Region sollten eine Transformation ihres politischen Systems nach dem Muster von Spanien in den Siebzigerjahren durchlaufen, ist man heute gegensätzlicher Ansicht. Angesichts des Schweigens von Paris und London ergreift Deutschland die Initiative und sagt: „Das, was wir im Süden vorhaben, ist nichts anderes als die Transformation von Mittelosteuropa. Da gibt es nichts zu befürchten: die Bewohner von Polen und Tschechien haben gestreikt, aber die Demokratie hat überlebt. Das Drängen auf Reformen, die die Europäische Union durchgeführt hat, waren in keiner Weise ein Grund für die Delegitimisierung von demokratischen Institutionen. Im Gegenteil, die verbliebenen Institutionen wurden gestärkt.“

Deutschland ist auch deshalb fest überzeugt von der Richtigkeit des Sparprogramms und der Beschränkung der Demokratie in  Bezug auf Griechenland – und das wird oft vergessen –, weil es Transformationserfahrungen mit der DDR hat. Obwohl Deutschland oft Arroganz vorgeworfen wird, ist es wahr, dass es die Mehrheit der Beschränkungen, die es anderen vorschlägt, zuerst sich selbst auferlegt hat.

Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dass Berlin davon überzeugt ist, dass eine tiefer gehende Demokratisierung der EU keine gute Idee sein muss. Aus kürzlich durchgeführten Untersuchungen geht hervor, dass die Deutschen gern überschüssiges Geld beispielsweise hungernden Kindern in Afrika oder ganz einfach armen Nachbarn zukommen lassen würden. Wesentlich weniger sind sie geneigt, den Griechen zu helfen. In diesem Sinne hat die Bundesrepublik recht, dass europäische Solidarität leichter auf der institutionellen Ebene durchzuführen ist.

Zum Schluss möchte ich auf das zurückkommen, was ich bereits angeführt habe: dass der Standpunkt Deutschlands radikal ist. Eine der wichtigsten Eigenschaften der modernen Politik war bisher, dass sie die wirtschaftlichen Interessen von Individuen und Gruppen betraf. Alfred Hirschman definiert Fortschrittlichkeit als ein Spiel der Leidenschaften und Interessen, das darin besteht, die Sprache der Leidenschaften in die Sprache von Interessen zu übersetzen, und sie dann in der politischen Domäne zu platzieren und zu verhandeln (über Leidenschaften als solche ließe sich kaum diskutieren). Wenn wir annehmen, dass ökonomische Entscheidungen außerhalb der Politik getroffen werden können, stellt sich die Frage, was dann noch für die Politik übrig bleibt, außer natürlich Identitätsinteressen, die gefährliche extremistische Konnotationen haben.

*Ivan Krastev, Leiter des Zentrums für liberale Strategie in Sofia, Mitarbeiter des Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

** Übersetzung: Antje Ritter-Jasińska.

nach oben

***

Clyde Prestowitz

Ohne ein starkes Deutschland ist die Stabilität Europas gefährdet

Deutschland muss mehr Verantwortung für die Europäische Union übernehmen. Dabei denke ich erstens an die Unterstützung der Bankenunion, zweitens daran, dass endlich die denominierten Staatsanleihen in Euro mit gemeinsamen Garantien akzeptiert, und drittens andere Länder in Richtung eines wirklich integrierten Finanzmarktes innerhalb der Eurozone geführt werden müssen.

Leider sieht die Wirklichkeit anders aus. In einem gewissen Sinne spielt Deutschland im Vereinten Europa schon heute die Rolle des Hegemonen. Deutschland ist in diesem Europa der stärkste Staat und kommt wirtschaftlich am besten zurecht. Dies bedeutet jedoch keine Allmacht. Die Bundesrepublik mag das einflussreichste Land sein, aber sie ist weit entfernt von der Rolle des EU-Diktators. Aus diesem Grund bin ich nicht der Meinung, dass diejenigen, die auf die historische Gefahr hinweisen, die mit einem erstarkenden Deutschland zusammenhängen, Recht haben. Wesentlich ungünstiger wäre ein Zusammenbrechen der Eurozone. Davor sollte man sich fürchten, schließlich könnte dies die schlimmsten Folgen haben. Die Rezession, die Krise, ja selbst ein Krieg und Massen an Flüchtlingen könnten wieder nach Europa kommen – dann wäre die Stabilität des gesamten Kontinents gefährdet.

Trotz seiner einflussreichen Rolle hat sich Deutschland bisher keiner einzigen der von mir aufgezählten Aufgaben angenommen. Beunruhigend ist auch, dass die Bundesrepublik den Eindruck macht, als würde sie die Sparpolitik in Bezug auf die Peripherieländer weiter verfolgen wollen. Diese Idee hat keine Zukunft, sie führt lediglich zur Vertiefung der dort sowieso bereits vorhandenen Armut.

Berlin sollte sich darüber klar werden, dass die Existenz einer gemeinsamen europäischen Währung für Deutschland von Vorteil ist: ohne sie könnte heute nicht die Rede sein von einer großen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Exportes. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, dass Deutschland die Eurozone verlässt, wenn der Euro sich dadurch nicht im Verhältnis zur Mark revalorisieren würde, und die Bundesrepublik dadurch nicht in Rezession käme. Oder anderes gesagt: Der politische Bruch in Gestalt des Zerfalls der Eurozone könnte am Ende zu einer noch tieferen sowohl wirtschaftlichen als auch politischen Krise führen.

Die Ironie des Schicksals besteht darin, dass Berlin heute gebeten wird, in Europa die Führung zu übernehmen. Einige Länder flehen Angela Merkel regelrecht an, die Staatsanleihen zu übernehmen. Sie ist jedoch nicht gewillt, dies zu tun. Schauen wir einmal, wie das am Beispiel Griechenlands aussehen würde. Die Griechen beklagen sich, weil Deutschland dazu drängt, eine strenge Finanzpolitik einzuführen. Doch auf diese Weise erweitert die Bundesrepublik ihre Rolle als Hegemon gar nicht! Berlin ist nicht bestrebt, ein integriertes EU-Finanzsystem und die Staatsanleihen in Euro zu akzeptieren, die die Griechen so sehr brauchen. Im Moment sind letztere enttäuscht, denn der Prozess der Europäisierung wurde faktisch gestoppt. Deutschland festigt seine führende Rolle nicht nur nicht, sondern ist darüber hinaus auch nicht in der Lage, seine Rolle in einem breiteren Kontext wahrzunehmen.

Ihr Europäer steht heute vor einer sehr schwierigen Wahl. Für welchen Weg ihr euch entscheidet, wird jedoch nicht von Deutschland abhängen. Innerhalb des kommenden Jahres müsst ihr alle zusammen entscheiden, ob ihr ein vereinigter, starker politischer Organismus sein wollt, was wohl im Hinblick auf die Zukunft das beste wäre, oder eine Gruppe kleiner Länder, die zwar unabhängig sind, aber keine große Bedeutung haben.

* Clyde Prestowitz war Berater des US-Handelsministers unter Präsident Ronald Reagan. Er ist Gründer und Präsident des Economic Strategy Institute.

** Übersetzung: Antje Ritter-Jasińska.

nach oben

***

Karolina Wigura

Europa braucht Demokratie, keine Vormachtstellung

Wir haben es in Europa mit einer regelrechten Palette an Krisen zu tun, die uns nicht alle ausreichend bewusst sind. Lautstark diskutieren wir über die Krise der politischen Führung, über die Wirtschaftskrise und die Krise der Eurozone. Dennoch sind nicht sie es, die unterm Strich die dramatischsten Folgen haben können. Zwei Krisen – die des europäischen Gedächtnisses und die der Legitimierung der Europäischen Union – können wesentlich bedeutsamer werden als die Rolle der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren.

In den Diskussionen zum Thema Zukunft des Euro vergessen wir recht häufig, dass die gemeinsame Währung im Vereinten Europa als ein Mittel zur Integration, und nicht als ihr Ziel, eingeführt wurde. Das Ziel der Integration war seit Anbeginn das Bedürfnis nach Garantie dafür, dass der deutsche Totalitarismus keine Chance hat, wiedergeboren zu werden. Mit anderen Worten: das Wesen der europäischen Integration und ihre stärkste Legitimation war Jahrzehnte lang die Angst vor der Vergangenheit.

In den europäischen Nationalstaaten, die trotz der Krise weiterhin demokratisch und relativ wohlhabend sind, ist das Gedächtnis heute zusammengeschrumpft auf ein Handvoll einfache Stereotypen. Ein Beispiel sind die Griechen, die beim Protest gegen den Besuch von Bundeskanzlerin Merkel in ihrem Land ihren stereotypen Vorstellungen der Deutschen als Nazis Raum gegeben haben, indem sie auf Transparenten Hackenkreuze und „Frau Merkel RAUS” gezeigt haben. Viele Menschen sagen, wenn sie hören, dass die Bundesrepublik entweder die Eurozone verlassen oder eine Vormachtstellung in der Europäischen Union übernehmen könnte: „Weder das eine noch das andere darf zugelassen werden. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt schmerzlich, dass sowohl ein allzu starkes Deutschland, als auch ein Deutschland, das nicht in die europäische Zusammenarbeit eingebunden ist, für andere gefährlich werden kann.“ Dies hat nicht allzu viel zu tun mit der heutigen Realität, mit dem Zustand der deutschen Demokratie, dem Respekt für Frieden, und noch weniger mit der Einstellung der Deutschen selbst zu diesen Möglichkeiten.

Weil die Zahl der Zeugen, die sich an den braunen Totalitarismus, und derer, die sich an den roten Totalitarismus erinnern, immer kleiner wird, halten die neuen Generationen der Europäer die ursprüngliche europäische Legitimation nicht für überzeugend. Das gleiche lässt sich von den Minderheiten sagen, beispielsweise von der türkischen, oder der chinesischen, deren Vertreter – obwohl sie sich oft als Europäer empfinden – die Geschichte der Totalitarismen nicht als ihr eigenes Erbe empfinden. Die jungen Europäer hingegen – und darauf weist in den letzten Monaten Jürgen Habermas immer wieder hin, sind frustriert und fühlen sich von den politischen EU-Eliten verdrängt. Daher beispielsweise die Anti-ACTA- und die Occupy-Bewegung. Immer deutlicher ist zu sehen, dass sich die europäische Demokratie auf die Perspektive der Nationalstaaten beschränkt oder auf gut funktionierende, aber festgefahrene und bürokratische EU-Institutionen, angesichts derer beispielsweise Referenden den Eindruck machen, als wären sie den Bürgern als Sicherheitsventil hingeworfen.

Robert Dahl hat einmal gesagt, dass nationalübergreifende Institutionen meistenteils undemokratisch sind. Und auch, dass die Europäische Union lediglich der Versuch ist, für eine Übergangszeit eine Demokratie zu schaffen. Wohlgemerkt: Demokratie für eine Übergangszeit. Das heißt, dass diese Demokratie auf Zeit ist, dass sie per definitionem einem Wandel unterliegt. Im Jahr 1963 schrieb Robert Schuman über die Ziele der Europäischen Union folgendes: „Europa – das ist die Einführung einer allgemeinen Demokratie in der christlichen Bedeutung dieser Worte.“ Trotz dieser Vorboten Schumans ist Demokratie in der Europäischen Union ein Versprechen geblieben. Es ist so weit gekommen, dass sie ein Versprechen bleiben darf. Ganze Jahrzehnte lang war die Demokratie keine Legitimation Europas, es sei denn es ging um die Demokratie von Nationalstaaten.

Heute muss laut und deutlich gesagt werden, dass die Europäische Union neue Legitimationen braucht. Legitimationen, die in der Lage sind, die jungen Generationen einzubinden, sonst werden diejenigen, die diese Gemeinschaft aufgebaut und ein Land nach dem anderen in sie aufgenommen haben, niemanden haben, dem sie diese Macht weitergeben können.

Die neuen Legitimationen sollten sich vor allem durch drei Elemente auszeichnen. Erstens das Element einer gemeinsamen Erzählung. Eine, die gestattet, die derzeitigen Misserfolge einzubinden in eine Erzählung über die Entwicklung der europäischen Union, und die diese Misserfolge nicht für eine Niederlage hält. Die Europäische Union ist ein Organismus, der schon oft gehört hat, dass sein unausweichliches Ende bevorsteht. Heute, so wie all die Jahre seit der Existenz der EU, sind dies recht verbreitete Worte. Eine gemeinsame Erzählung würde eine Aussage über die Krise in einen umfassenderen Prozess der Entwicklung der Europäischen Union integrieren.

Das zweite Element wäre eine neue, föderalere Gestalt der EU, die nicht auf der Grundlage des Modells der Bundesrepublik Deutschland, und auch nicht der Vereinigten Staaten beruhen würde. Es wäre dies eine neue Form der Föderation, die auf der doppelten Staatsbürgerschaft des Nationalstaates, der weiter besteht und ein wichtiges Element unserer Identität ist, und des europäischen Staates bzw. der europäischen Föderation aufbauen würde.

Drittens ist der demokratische Bestandteil enorm wichtig. Es geht darum, außer den nationalen Volksabstimmungen, Abstimmungen auf europäischer Ebene zu ermöglichen. Und weiter um die Ermöglichung der Teilnahme der Bürger am Entscheidungsprozess auf jeder seiner Etappen. Es gibt auch rein soziologische Tools, wie deliberative Umfragen oder andere Elemente der deliberativen Demokratie. Sie bestehen darin, dass Elemente der direkten Demokratie in das sehr repräsentative, sehr bürokratische, sehr steife System, das uns zur Verfügung steht, eingeführt werden.

Ohne eine solche neue Legitimation, wird das Interesse der kommenden Generationen der Europäischen Union nicht als abstraktes Projekt, sondern als realer Raum des guten Lebens, mit den Generationen, die die EU geschaffen haben, verschwinden. Wird der Wandel in diese Richtung nicht schon bald nach der Zivilisierung des Vereinten Europas beschleunigt, bleiben lediglich Scherben zurück, die im Höchstfall noch für die Archäologen der Zukunft interessant sein werden.

Karolina Wigura, Doktor der Soziologie, Journalistin. Redaktionsmitglied von „Kultura Liberalna” und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Soziologie an der Universität Warschau. Derzeit ist sie im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien als Bronisław Geremek Junior Visiting Fellow tätig. 

** Übersetzung: Antje Ritter-Jasińska.


nach oben

***

Gertrud Höhler

Die Königin Europas ist ohne Nachfolger

Jakub Stańczyk im Gespräch mit Prof. Gertrud Höhler, der Autorin des 2012 erschienenen, bekannten Buches ”Die Patin”

[Lesen Sie das gesamte Interview HIER]

Jakub Stańczyk: Angela Merkel ist heute die wichtigste Frau in Europa, wenn nicht gar in der Welt. Benutzt sie ihr Frausein als politisches Instrument?

Gertrud Höhler: Merkel begann ihre Karriere gerade deshalb mit so großem Erfolg, weil sie eine Frau war. Es ging um den Sturz von Kohl. Alle Männer in der unmittelbaren Umgebung des Bundeskanzlers wollten seinen Rücktritt, aber waren zu feige, um die Sache in die eigene Hand zu nehmen. Sie hingen an ihm, schämten sich und hatten Angst davor, irgendetwas zu unternehmen. Merkel hingegen vermochte es, schlichtweg zu sagen, dass sie mit Kohl nichts gemein haben will. Auf eben diese Weise vollzog sie eine Beschleunigung ihrer Karriere.

War sie stets so radikal?

Nein, denn damals tat sie ganz einfach etwas, was Frauen oftmals tun. Ähnlich wie in Partnerschaften, wo die Frauen es sind, die sich häufiger dafür entscheiden, den Partner zu verlassen. Und in diesem Sinne ist Merkel eine typische Frau. Aber sie instrumentalisiert ihr Frausein nicht. Sie lehnt es überhaupt ab, irgendeinen Unterschied zwischen den Geschlechtern herauszukehren. Der Spiegel hat sie einmal gefragt, ob sie große Unterschiede zwischen Männern und Frauen sehe. Sie sagte – ja. Aber bereits sechs Jahre später stellte sie fest, dass es diese überhaupt nicht gebe. Der schockierte Redakteur konnte sich noch an die frühere Antwort erinnern und fragte, ob diese Unterschiede tatsächlich nicht vorhanden seien. Sie sagte ihm, dass es vielleicht einen Unterschied gebe – Männer haben eine kräftigere Stimme. Dies war natürlich ein Seitenhieb auf Schröder, der in der Öffentlichkeit auch mal schreien konnte.

Und Merkel spricht so leise?

Wenn sie an den Rednerpult tritt, hat man sogar das Gefühl, dass sie am liebsten überhaupt nichts sagen würde. Sie spricht nur aus zwanghafter Notwendigkeit, aber dies resultiert daraus, dass sie sich in keinster Weise festlegen möchte. Sie hat ihre eigene Philosophie, die man wie folgt ausdrücken könnte: Sage nie einen Satz, den man dir einst vorhalten könnte. Aber dies könnte genauso gut eine männliche Eigenschaft sein.

Europa wird heute jedoch hauptsächlich von Männern regiert. Wie würden sie Frau Merkel als Politikerin im Vergleich zu anderen Staatsoberhäuptern einschätzen?

Sie versucht, persönlich keinerlei Entscheidungen zu treffen. Sie fährt lediglich auf Konferenzen und wacht darüber, dass bestimmte Vereinbarungen vollzogen werden und dass die Medien dies mit der Feststellung quittieren, dass hervorragende Entscheidungen gefällt wurden und die Königin Europas – das ist sie – die maßgebliche Entscheidungsträgerin gewesen ist. Die wichtigsten Entscheidungen werden hingegen unter dem Druck der verschuldeten Staaten getroffen. Man sendet ihnen Geld, aber leistet ihnen keine strukturelle Hilfe. Man gibt Kredite, aber sagt nicht, für was diese Gelder bestimmt sein sollen. Monti und Rajoy sahen ihre Chance bei der jüngsten ESM-Sitzungsrunde, als Merkel hinausging, um sich für zwei Stunden schlafen zu legen. Als sie fort war, trafen sie die Entscheidungen hinter ihrem Rücken… Merkels unglaubliche Vorsicht hängt in gewisser Weise mit ihrer nüchternen Weltsicht zusammen. Sie ist unberechenbar. Menschen, die mit ihr arbeiten, wissen, dass sie jede Position wechseln wird. Denn heute sagt sie etwas und morgen das Gegenteil.

Einerseits sagen Sie, dass Merkel sich durchschlagen kann und ihre Konkurrenz zu besiegen versteht. Andererseits sei sie unfähig, Entscheidungen zu treffen. Geht das vielleicht Hand in Hand?

Ja, natürlich. Es gibt nur niemanden, der diese Inkohärenz in ihrem Verhalten wahrnimmt. Darum habe ich das Buch geschrieben. Denn niemand sieht, dass keine einzige Entscheidung von ihr stammt. Sie verlangsamt das Tempo und bringt Veränderungen zum Stillstand – und die Deutschen sind entzückt, dass noch nichts endgültig beschlossen wurde. Ein paar Wochen später fällt die Tür ohnehin ins Schloss, aber das bekommen die Menschen dann nicht mehr mit. Merkel möchte ganz einfach so lange wie möglich an der Macht bleiben. Im Gegensatz zu ihr opferte Schröder sein Amt für ein politisches Ziel, das seine eigene Kariere kostete. Er wollte den Sozialstaat leistungsfähiger machen und Arbeitslosigkeit reduzieren. Die positiven Effekte seiner Politik sind in Deutschland bis heute erkennbar. Eine solche Situation ist für Merkel unvorstellbar. Und der Sicherheitsinstinkt von uns Bürgern wird permanent eingeschläfert, da Merkel die Ereignisse für ihre Zwecke weniger dramatisch darstellt als sie es in Wirklichkeit sind.

In ihrem Buch gehen Sie noch weiter, sie nennen ihren Politikstil autokratisch. Das klingt sehr stark. Hat die Bundeskanzlerin diesen Tadel verdient?

Merkel praktiziert autoritäre Führung. Autoritär ist gerade ihr Schweigen, die fehlende Kommunikation, die ihren Regierungsstil kennzeichnet. Dabei herrscht die Überzeugung, dass man keine Fragen stellen darf. Wenn diese Fragen auftauchen, antwortet Merkel, dass die von ihr vorgeschlagene Lösung ohne Alternative ist. Und Schluss. Darüber hinaus ändert sie Gesetze von einer Stunde zur anderen. Sie hat keinen Respekt vor dem europäischen und deutschen Recht. Das beste Beispiel ist der regierungsamtliche Umsturz in der Energiepolitik. Merkel hatte bislang völlig unjuristische Gründe für diesen Wandel: Sie wollte die Grünen schwächen, indem sie deren Postulate übernahm. Das ist ein durchdachtes Programm zur Verwischung der Grenzen zwischen den Parteien, um der parlamentarischen Demokratie zu schaden.

[Lesen Sie das gesamte Interview HIER]

* Gertrud Höhler – Professorin für Literaturwissenschaft, ehemalige Beraterin von Helmut Kohl, Autorin des 2012 erschienenen, bekannten Buches ”Die Patin”.

** Jakub Stańczyk – studiert im 6. Semester Interfakultäre Individuelle Humanistische Studien an der Universität Warschau und ist Mitglied des Redaktionskomitees des Warschauer Wochenmagazins ”Kultura Liberalna” [Liberale Kultur].

*** Übersetzung: Jan Obermeier.

nach oben

***

* Konzept dieser Ausgabe: Karolina Wigura
** Mitarbeit: Jakub Stańczyk, Jakub Krzeski.
*** Koordination des gemeinsamen Projektes der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und der „Kultura Liberalna”: Monika Różalska und Ewa Serzysko.
**** Illustrationen: Antek Sieczkowski.

 „Kultura Liberalna” Nr. 199 (44/2012) vom 30. Oktober 2012

Das vorliegende Thema der Woche eröffnet eine Reihe über die Zukunft der Europäischen Union, die von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und von Kultura Liberalna erstellt wird.