[ Wersja polska / polnische Version / Polish version ]
Sehr geehrte Damen und Herren,
„Vielleicht hat Hitler nicht genug von ihnen umgebracht” – das sind Worte, die soeben erst in Frankreich zu hören waren, aus dem Munde des Bürgermeisters eines kleinen Städtchens in dem bezaubernden Land an der Loire. Gemeint war das sogenannte „fahrende Volk” („Gens du voyage”, wie in Frankreich eine offizielle Bezeichnung u.a. für die Roma lautet). In den Medien kochten die Emotionen hoch, dem Politiker schlug aus den eigenen Reihen schärfste Kritik entgegen. In Ungarn wurden vergangene Woche Rechtsextreme wegen des Mordes an einigen Vertretern der Roma-Minderheit von einem Gericht zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Für Aufruhr in Österreich sorgte die vor wenigen Tagen gefallene Entscheidung zur Abschiebung von Flüchtlingen, vor allem pakistanischer und afghanischer Nationalität, die seit einigen Monaten in Wien friedlich gegen das strikte Asylrecht protestieren…
Das sind nur die Meldungen der letzten Tage und es ließen sich noch viele weitere Beispiele finden, obwohl es zahlreiche Bestimmungen gibt, die gegen Diskriminierung schützen sollen. Vor nur wenigen Jahren rief Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, in dem der Autor die These beweisen wollte, die deutschen Türken besäßen einen niedrigeren Intelligenzquotienten als die Deutschen selbst, einen Riesenskandal hervor. Erbarmungslos kritisiert wurden belgische Parlamentarier, die im Jahr 2010 unzählige Stunden darauf verwendeten, ein Kopftuchverbot für Musliminnen zu erstellen – später wurde nachgezählt, dass es tatsächlich um eine Gruppe von rund hundert Frauen ging. Doch der Kontext ist um einiges umfassender als diese paar Fälle, die, einzeln betrachtet, beinahe als bedauerliche Zwischenfälle erscheinen könnten.
Eine negative, häufig populistische Rhetorik das „Fremde“ betreffend sowie auch Konflikte vor dem Hintergrund von „Rassen-“, „ethnischen“, religiösen oder nationalen Unterschieden sind heute aus der politischen Landschaft des Alten Kontinents nicht mehr wegzudenken. Nach diesem Maß werden politische Trennlinien neu gezogen. Manchmal lassen sich bei Fragen der Immigration die tatsächlichen Unterschiede in der Vorgehensweise rechter und linker Parteien nur schwer ausmachen. Offen bleibt die Frage, ob die alten Gespenster nach Europa zurückkehren oder ob wir es mit einem völlig neuen Phänomen zu tun haben.
Europa steht im Grunde vor der Frage nach dem Status, der Integration und Assimilation des „Fremden” (soweit dies überhaupt möglich ist). Dieses „Fremde“ hat viele Gesichter – sowohl ethnische als auch religiöse. Ein europäisches Äquilibrium zu finden ist schwer, denn die Europäische Union basiert, anders als die Vereinigten Staaten, nicht auf dem Mythos einer Immigrantengemeinschaft. Im Streit um das „Fremde“ wird die Spannung zwischen dem liberalen Recht des Einzelnen auf respektvolle Behandlung und dem Recht der Gemeinschaften auf die Bewahrung ihrer Kultur sichtbar.
Hier lohnt es sich, ganz offen zu fragen, ob diese fundamentale Herausforderung die europäischen Politiker nicht ganz einfach überfordert – einerlei, ob dabei vom östlichen oder vom westlichen Teil des Alten Kontinents gesprochen wird. Und hier verschafft die Lektüre der vier Texte, die heute in der „Kultura Liberalna“ im Rahmen des „Themas der Woche“ veröffentlicht werden, bei der Gelegenheit gleich eine gewisse Vorstellung davon, ob etwa mentale Überbleibsel des – wenn auch in politischem Sinne seit Langem nicht mehr vorhandenen – Eisernen Vorhangs Europa immer noch trennen.
Die Ausgabe eröffnet ein Essay von der Expertin für europäische Migration Saskia Sassen. Sie erklärt darin, welche Bedeutung die Finanzkrise für die heutige xenophobe Stimmung in Westeuropa hat. Des Weiteren erinnert sie an den regelmäßig wiederkehrenden dringenden Bedarf an Arbeitskräften und an die Diskriminierung, welche den Ankömmlingen entgegenschlägt. Die berühmte deutsche Publizistin türkischer Herkunft Necla Kelek wiederum analysiert im Gespräch mit der „Kultura Liberalna” die Situation in Deutschland.
Vollkommen anders sieht die Situation in Mitteleuropa aus. Hier, argumentiert der ungarische Soziologe András L. Pap, ergibt sich die problematische Situation der Migranten und Gruppen von Minderheiten häufig daraus, dass diese keine sich ihrer Rechte bewusste Gruppe darstellen (und auch nicht als eine solche behandelt werden). Sie sind also, kurz gesagt, eine Gruppe von Unsichtbaren. Pap erklärt ebenfalls, worauf der Teufelskreis der institutionellen Diskriminierung beruht, die zum Beispiel dazu führt, dass Roma-Kinder in der Slowakei und Ungarn auf Sonderschulen geschickt werden. Diese Situation zeigt Katarzyna Kubin, die Vorsitzende der Stiftung für Gesellschaftliche Vielfalt (Fundacja na rzecz Różnorodności Społecznej), anhand des polnischen Beispiels auf der Mikroskala auf. Ihrer Ansicht nach bewirkt der Mangel an in sich schlüssigen Strategien bezüglich Bildung, Aufnahme von Arbeitsverhältnissen, Eintritt in die Ehe usw., dass Migranten in Polen in ein gesellschaftliches Vakuum geraten und die um Hilfe bemühten Nichtregierungsinstitutionen in völligem Chaos versinken.
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Das Thema der Woche gehört zu dem Zyklus, den die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und Kultura Liberalna im Rahmen eines deutsch-polnischen Projektes über die Zukunft der Europäischen Union gemeinsam erarbeiten.
Zu folgenden Themen sind bereits Ausgaben erschienen: „Soll Deutschland sich für die Europäische Union aufopfern?“ mit Texten von Ivan Krastev, Clyde Prestowitz, Karolina Wigura und Gertrud Höhler; „Europa ist ein Club der gedemütigten Imperien“ das einzige Interview mit Peter Sloterdijk in den vergangenen Jahren für die polnische Presse; „Der Traum vom Wohlfahrtsstaat“ mit Texten von Wolfgang Streeck, Richard Sennett, Jack Saryusz-Wolski und Łukasz Pawłowski; „Freiheit, Klima, Elektrizität!” mit Texten von Claudia Kemfert, Wojciech Jakóbik, Grzegorz Wiśniewski und Jakub Patočka.
Schon bald erscheint eine neue Ausgabe!
Viel Freude bei der Lektüre!
Karolina Wigura
* Aus dem polnischen von Lisa Palmes.
1. SASKIA SASSEN: Die Politik der Zugehörigkeit
2. NECLA KELEK: Das ist eine Debatte über das Wesen der europäischen Freiheit
3. ANDRAS L. PAP: Mittel- und Osteuropa: Abbildung von Minderheiten und Beispielen für Diskriminierung
4. KATARZYNA KUBIN: Einwanderung in Polen: Ein Thema, das nicht zur Sprache kommt.
Saskia Sassen
Die Politik der Zugehörigkeit
Die wachsenden Stimmungen gegen die Einwanderung in Europa führen dazu, dass die Politik der Zugehörigkeit wieder nationalisiert wird. Diese erneute Nationalisierung ist stark ideologisch und gleichzeitig institutionell zunehmend schwächer, in dem Maße, in dem die Europäische Union institutionell stärker wird.
Obwohl die Kompetenzen der EU noch immer unvergleichlich geringer sind als die der einzelnen Nationalstaaten, hat diese Tendenz bereits das Wesen der Beziehungen zwischen Nationalstaat und Staatsbürgerschaft verändert. Die institutionelle Entwicklung der Europäischen Union und die wachsende Bedeutung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte führen dazu, dass das, was aus historischer Sicht als durch und durch national entstanden ist, Schritt für Schritt entnationalisiert wird. Interessanterweise wird diese „Entnationalisierung“ katalysiert von der Entstehung zahlreicher Akteure, Gruppen und Gemeinschaften, die eine umfassender verstandene politische Zugehörigkeit postulieren. Sie lehnen die automatische Identifizierung mit dem Nationalstaat ab, selbst wenn sie seine rechtmäßigen Bürger sind. Das bedeutet weder, dass sie den Nationalstaat ablehnen, noch dass sie die EU voll und ganz annehmen. Das ist ein komplexerer Prozess, in dem sich der Bürger vom Staat distanziert, zu dem manche EU-Institutionen, die Menschenrechtsbestimmungen und die wachsende Bedeutung der internationalen Bürgergesellschaft beitragen. Dieser sowohl institutionelle als auch subjektive Wandel in der Europäischen Union prallen zusammen mit einem anderen starken Trend – der erneuten Nationalisierung des Zugehörigkeitsgefühls.
Historisch betrachtet wurde die Staatsbürgerschaft paradoxerweise von Postulaten und Forderungen von Ausgeschlossenen gestaltet, sowohl von Minderheiten, als auch von Einwanderern. Mehr noch, die Entwicklung der formalen Staatsbürgerrechte von den Nachkriegsjahren an bis in die neunziger Jahre hinein führte dazu, dass die Nationalstaaten zur Schaffung von Bedingungen beitrugen, in denen das Konzept der Unionsbürgerschaft entstehen konnte. Zur gleichen Zeit hat im Zuge der Dominanz des neoliberalen Gedankens während der vergangenen zwei Jahrzehnte der Staat als solcher einen Wandel durchgemacht. Ein Element dieses Wandels ist die Reduktion sozialer Verpflichtungen des Staates dem Bürger gegenüber, die im Namen der Schaffung eines neoliberalen „konkurrenzfähigen Staates“ vorgenommen wurde. Aus diesem Grund ist es derzeit unwahrscheinlich, dass die Mitgliedsstaaten in der Lage sein werden, im Bereich Legislative und Judikative eine ähnliche Anstrengung aufzubringen, die einst zu erweiterten Bürgerrechten geführt hat. Das aber kann – und das ist das zweite Paradoxon – dazu führen, dass das Zugehörigkeitsgefühl der Bürger zu ihren eigenen Nationalstaaten schwächer wird. Immer öfter werden Ansprüche auch bei anderen Institutionen als dem Staat angemeldet werden, beispielsweise beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Europa und seine Migrationen
Ehemalige Einwanderergruppen funktionieren innerhalb europäischer Gesellschaften gut, wenn auch auf unterschiedliche Weisen. Aus diesen ehemaligen Einwanderergruppen, die vor drei oder vier Generationen (oder noch früher) nach Europa gekommen sind, sind zahlreiche heutige Staatsbürger hervorgegangen. Sie sind also nicht Gegenstand der derzeitigen Diskussionen, obwohl es zu Zeiten ihrer Einwanderung um sie ähnliche Streitigkeiten gegeben hatte.
Derzeit konzentriert sich die Mehrheit der Argumente gegen die Einwanderung auf Fragen der Rasse, der Religion und der Kultur, und benennt meistenteils kulturelle und religiöse Unterschiede als Hauptgrund für die Schwierigkeiten im gemeinschaftlichen Leben. Diese Argumente könnte man als rational bezeichnen, schaut man sich jedoch ihren historischen Kontext genauer an, sieht man darin lediglich ein neues Kleid für alte Leidenschaften: die Reduktion von „Andersartigkeit“ auf die Frage der Rasse. Heute wird der Stereotyp des „Anderen“ aufgebaut, indem man sich auf die Unterschiede in Rasse, Religion und Kultur beruft. Ähnliche Argumente wurden laut, wenn Einwanderer aus Gruppen stammten, die bezüglich dieser Kriterien ähnlich waren. Dann argumentierte man, sie würden zu der Gesellschaft, in die sie gekommen waren, nicht passen, da sie schlechte Gewohnheiten und zweifelhafte Moral hätten und ihre Religion regelwidrig praktizieren würden. Migration findet immer zwischen zwei Welten statt, selbst wenn sich diese Welten in der gleichen Region oder im gleichen Staat befinden, so wie beispielsweise im Falle von Bürgern der ehemaligen DDR, die, wenn sie nach Westdeutschland übersiedelten als eine separate ethnische Gruppe mit unerwünschten Eigenschaften wahrgenommen wurden.
Es gibt Hinweise auf den zyklischen Charakter der Anti-Einwanderungspolitik und der Ballung von Fragen, die damit einhergehen. Jahrhunderte hindurch haben die größten europäischen Wirtschaftsmächte heftige Zyklen der enormen Nachfrage nach der Arbeitskraft von Migranten durchgemacht, wonach rücksichtslose Aussiedlung eintrat, um dann ein paar Jahrzehnte später wieder Defizite bei den Arbeitskräften zu haben. Ein Beispiel aus der neusten Geschichte ist Frankreich, das während des Ersten Weltkrieges verzweifelt Arbeitskräfte brauchte (es wurden sogar algerische Einwanderer in die Armee einberufen), und während des Wiederaufbaus des Landes in den zwanziger Jahren, ein Jahrzehnt später machte es eine Epoche der aggressiven Anti-Einwanderungspolitik durch, um dann in den vierziger Jahren wieder eine dringende Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften zu entwickeln, und so weiter. Die Beispiele aus der Vergangenheit und die derzeitige, oben beschriebene Situation weisen meiner Meinung nach darauf hin, dass das Phänomen der Zyklizität weiterhin auftreten kann. Im Hinblick auf den wachsenden Bedarf nach billigen Arbeitskräften und den rapiden Rückgang der Bevölkerungszahlen in der heutigen EU, lässt sich leicht voraussagen, dass innerhalb eines Jahrzehnts, wenn nicht eher, eine Phase des größeren Bedarfs an ausländischen Arbeitskräften eintreten wird.
Die beste Strategie für die reichen EU-Ländern, die so besorgt sind wegen des massenhaften Zuflusses von Billiglohnarbeitern und schlecht ausgebildeten Arbeitnehmern aus den neuen EU-Mitgliederstaaten, ist, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um diesen Arbeitnehmern eine möglichst umfassende Entwicklung zu gewährleisten.
Migration als ein eingebetteter Prozess
Für die Entwicklung der Politik der Zugehörigkeit ist es maßgeblich zu klären, ob die Arbeitsmigration ein integraler Bestandteil des Funktionierens und der Entwicklung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen ist. Mein Argument ist einfach: Wenn die Ursache für die Einwanderung in der Suche nach einem besseren Leben gesehen wird, wird sie von dem jeweiligen Gastland als ein Prozess verstanden werden, der von Bedingungen gestaltet wird, die von ihm unabhängig sind. Dem Zuwanderungsland wird aufgebürdet, die Einwanderer aufzunehmen. So gesehen können wir, wenn die Armut und die Überbevölkerung in anderen Teilen der Welt wachsen, mit einem Anwachsen der Einwanderung konfrontiert sein, zumindest potenziell. Das Zuwanderungsland gerät hierbei in die Rolle eines „passiven Zuschauers“, der keinen Einfluss auf die Prozesse hat, die sich außerhalb seines Macht- und Kontrollbereiches vollziehen. Dadurch hat es nicht viele andere Optionen, um die „Invasion“ zu verhindern, außer der Festigung seiner Grenzen.
Die Politik der Zugehörigkeit wird davon beeinflusst, dass die Zuwanderungsländer de facto zur Entstehung von innerer Migration beitragen. Daraus folgt unter anderem das Recht von Einwanderern darauf, nicht als Verbrecher oder „Illegaler“ wahrgenommen zu werden. Eine weitere Folge ist, dass die europäischen Arbeiterklassen, die innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre enorme Verluste zu verzeichnen hatten, ihre Wut auf die zentralen wirtschaftlichen und politischen Gruppen richten sollten, die die Programme entworfen haben, die sich ihrer Meinung nach zerstörerisch auf die Gesellschaft auswirken.
Die Geschichte der innereuropäischen Migration zeigt, dass aus verfolgten Einwanderern im Laufe der Zeit Eltern und Großeltern europäischer Bürger geworden sind. Am bedeutsamsten ist vielleicht, dass diese Geschichte zeigt, dass die Mühe, die sich mit der Integration von Ausländern gemacht wird, auch zur Erweiterung der Bürgerrechte beigetragen und aus Europa eine offene Gesellschaft gemacht hat. Dennoch hat jede Generation ihre Konflikte und Feindschaften gegen eine jede neue Nationalität durchgemacht, die in Europa aufgenommen wurde. In den siebziger Jahren waren das die Italiener, Spanier und Portugiesen. Jetzt scheint das unvorstellbar, aber diese Feindschaften sind noch immer vorhanden, und richten sich gegen eine ganze Generation an fremden Nationalitäten und Kulturen. Die Herausforderung, Europa als eine offene Gesellschaft zu erhalten, wird zum wiederholten Mal erfordern, Mechanismen einzuführen, die die Zugehörigkeit erweitern. Nur sie sind in der Lage, die Bürgerrechte und die Offenheit zu stärken.
* Saskia Sassen, Professorin für Soziologie an der Columbia University, New York (www.saskiasassen.com).
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Necla Kelek
Das ist eine Debatte über das Wesen der europäischen Freiheit
Dank der Debattenkultur in Deutschland konnte auch über ein Buch, wie Sarrazin es geschrieben hat, diskutiert werden, die Demokratie hat in diesem Falle gesiegt. Über Sarrazin redet niemand mehr. Aber über Integration schon.
Über 16 Millionen Bürger nichtdeutscher Herkunft leben in diesem Land. 80 Prozent dieser Einwanderer haben keine Probleme, können sich hier eine Zukunft aufbauen und dabei ihre Identität wahren und haben das Land bereichert und weitergebracht. Niemand verlangt von einem Einwanderer, dass er seine Tradition verleugnet oder aufgibt. Diese Traditionen sind aber meist mit den Werten unserer Gesellschaft kompatibel und die meisten haben keine Probleme damit, einen Platz, eine Nische für sich und ihre Gruppe zu finden. Einerseits ist also die Geschichte der Zuwanderung eine deutsche Erfolgsgeschichte.
Andererseits ist die Integration gescheitert. Probleme haben diejenigen, die Kultur nicht als Konsens, sondern als Differenz leben wollen. Diese Gruppe ist fast ausschließlich im Umfeld der in konservativen Islamverbänden organisierten Scharia-Muslime zu finden. Wir reden bei diesen sich selbst ausgrenzenden Migranten über eine Gruppe von weniger als 1,5 bis 2 Millionen Bürgern. Bei dieser Gruppe kapituliert die Politik, indem sie auf das Konzept der Emanzipation verzichtet, das Europas Kern ausmacht, nämlich dass für die Zivilgesellschaft freie und gleiche Bürger gebraucht werden. Offenbar lehnen viele Migrationsforscher, Integrationsbeauftragte und die von ihnen beratenen Politiker es ab, eine europäische Wertegemeinschaft anzustreben. Für sie ist die Gesellschaft divers, vielfältig, indifferent. Eine konstruktive Integration aller Migranten ist von ihnen nicht vorgesehen. Diese Diversität wird aber ausschließlich von konservativen Muslimen und ihren Freunden, aber weder von Polen, Vietnamesen oder Spaniern verlangt. Man könnte fragen, warum.
Ich persönlich hoffe, dass die Europäer erkennen, dass Modernisierung nicht identisch ist mit Demokratisierung, siehe Saudi-Arabien und die Emirate. Es ist an der Zeit, klare Forderungen nach demokratischen Verhältnisse auch innerhalb der Migranten-Gruppen zu stellen. Wir müssen sehen, dass die Türkei in zwei Lager gespalten ist, wie auch die drei Millionen Türkischstämmigen in Deutschland zwei Lager bilden. Die anatolisch und religiös Geprägten wollen die Islamisierung mit Hilfe der AKP auch in Europa. Die Anderen wollen Europa so wie es ist. Die Debatte über den politischen Islam muss kritisch und konsequent weitergeführt werden, weil es um den Kern unserer Freiheit geht. Dies gilt auch für Sinti- und Roma-Familien, die oft patriarchalisch strukturiert sind. Ohne die Hilfe des Sozialstaates und einer aktiven Integrationspolitik kann ihre Integration nicht gelingen.
* Necla Kelek, deutschtürkische Sozialwissenschaftlerin und Feministin, bekannt geworden vor allem durch ihr autobiografisches Buch „Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“ (2005).
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András L. Pap
Mittel- und Osteuropa: Abbildung von Minderheiten und Beispielen für Diskriminierung
Das gesellschaftspolitische Klima und die Umstände haben eine fundamentale Bedeutung für die Wahrnehmung von Minderheiten und die Einführung bestimmter politisch-rechtlicher Lösungen. Die Struktur der systematischen und institutionellen Diskriminierung hingegen – dieser spezifische Fall von gesellschaftlicher Krankheit – liefert außergewöhnlich viele Informationen über eine Gesellschaft.
Welche Gruppen als Minderheiten angesehen werden, durch welche Kriterien ihre Mitglieder definiert und auf welche Weise diese geschützt werden, hängt von den Eigenschaften einer Gesellschaft ab. Daher kann der Schutz von Minderheiten – seien es rassische, ethnische oder nationale – viele unterschiedliche Ziele haben, vom Einsatz für gesellschaftsökonomische Gleichheit über die Sicherstellung von Religionsfreiheit bis hin zum Schutz von potenziellen Opfern brutaler ethnischer Auseinandersetzungen. Aus diesem Grund können auch die Gesetze zum Schutz von Minderheiten verschiedene Formen annehmen: von der affirmative action (positiven Diskriminierung) und der Sicherstellung religiöser und politischer Freiheit der gegebenen Gruppen über die Festlegung kultureller oder politischer Autonomie bis hin zur Überwachung extremistischer Gruppen.
Die Besonderheit Mittel- und Osteuropas beim Umgang mit Minderheiten ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Erstens konzentriert sich der Schutz gewöhnlich auf die traditionellen (nationalen) Minderheiten, besonders in Staaten, die selbst eine große Diaspora in ihren Nachbarländern haben. Zweitens erweisen sich die von der Europäischen Union erlassenen Antidiskriminierungsvorgaben in vielen Fällen als inadäquat oder schlecht konstruiert und bieten keine Handhabe gegen die fest verankerten, für den jeweiligen Staat charakteristischen Formen der institutionellen Diskriminierung. Und drittens sind – da es sich weder um eine wohlhabende noch gesellschaftlich oder kulturell besonders inklusive Region handelt – die neuen, nach dem Fall des Kommunismus hinzugekommenen Immigrantengruppen eher klein und haben die ebenfalls eher geringe Fähigkeit, politischen Druck auszuüben.
Die „traditionellen” und die neuen Fremden
Nehmen wir zum Beispiel Ungarn, ein Land, das – auch wenn die Länder Mittel- und Osteuropas noch weit entfernt sind von einer Homogenität der Institutionen, Gesetze und Einwanderungspolitik – viel über die Region als solche aussagt. Das Minderheitenschutzgesetz wurde in Ungarn sehr früh eingeführt: 1993, fast sofort nach dem Fall des Kommunismus. Es wurde darin die weit gefasste kulturelle und politische Autonomie von 13 „traditionellen“ Minderheitengruppen festgestellt: 11 nationalen sowie 2 ethnischen (einer winzigen, aus ca. 3000 Personen bestehenden ruthenischen und einer großen Roma-Minderheit, die offiziellen Daten zufolge etwa 3% der Gesellschaft bildet, in Wirklichkeit aber über dreimal so zahlreich sein könnte).
Eine große kulturelle Autonomie, die den Erhalt der Sprache, staatlich geförderten Unterricht in der Sprache der Minderheiten und sogar eine Minderheitenselbstverwaltung umfasst (hier ist die ungarische Lösung einzigartig und wird von vielen als möglicherweise international übertragbar angesehen), befriedigt gut die Bedürfnisse folgender klassischer Minderheiten: der deutschen, kroatischen, slowakischen, rumänischen oder polnischen. Hier muss allerdings hervorgehoben werden, dass viele Vertreter dieser Gruppen aufgrund der komplizierten Geschichte des 20. Jahrhunderts das ungarische Territorium verlassen oder aber sich assimiliert bzw. eine doppelte nationale Identität herausgebildet haben.
So sehr die den Minderheiten zugestandenen Rechte eine hervorragende diplomatische Verhandlungsgrundlage mit anderen Ländern darstellen, in denen eine ungarische Minderheit Anerkennung fordert, so wenig beziehen sie die Roma-Gesellschaft mit ein. Und damit sind die tatsächlichen Probleme der größten Minderheit nicht gelöst, denn deren Bedürfnisse gehen infolge der gesellschaftlichen Ausgrenzung weit über Fragen der Kultur hinaus.
Wenn Segregation von staatlichen Institutionen gerechtfertigt wird
Die institutionelle Diskriminierung tritt nicht nur in den traditionellen Formen auf, sondern kann auch für einen bestimmten Staat ungewöhnliche Formen annehmen, die nicht nur entsprechend angepasste Lösungen erforderlich machen, sondern auch viel über den jeweiligen Staat aussagen. Um institutionelle Diskriminierung handelt es sich dann, wenn rechtliche Entscheidungen, die einzelne Individuen betreffen – wie zum Beispiel die Zuteilung von Kindern in Schulklassen „mit besonderem Förderbedarf“ oder auch polizeiliche Stichprobenkontrollen von Personen – sich überproportional auf eine gesellschaftliche Gruppe konzentrieren.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mehrmals befunden, die tschechische, die slowakische und die ungarische Regierung betrieben im öffentlichen Bildungssystem eine unrechtmäßige, diskriminierende Segregation. In Ungarn wird manchmal sogar das Bildungssystem für die Roma, das ursprünglich zum Schutz ihrer Kultur eingeführt wurde, dazu benutzt, um Segregation zu verdecken und zu rechtfertigen. Des Lesens und Schreibens unkundige Roma werden von Schuldirektoren dazu gebracht, Anträge für einen besonderen Roma-Schulunterricht für ihre Kinder zu unterzeichnen. Als Resultat wird diesen Kindern einmal wöchentlich qualitativ minderwertiger Volkskunde-Unterricht erteilt, und den Rest der Zeit sitzen sie in separaten Klassen, wo die Lernbedingungen um einiges schlechter sind.
Der Kampf gegen Vorurteile bei der Polizei ist ebenso schwierig – nicht nur, weil die Polizei laut Datenschutzgesetz keine Angaben zur ethnischen Abstammung der Kontrollierten machen darf, sondern auch, weil in einer so tief von Vorurteilen geprägten Gesellschaft wie der ungarischen selbst der Hinweis auf die niedrige Effektivität von Stichprobenkontrollen nicht als überzeugendes Argument angesehen würde. Leider weckt in Ungarn eine menschenrechtsorientierte Sprache nur Verachtung und ist politischer Selbstmord. In einem Land, in dem der Begriff der „Roma-Kriminalität“ (der kriminelles Verhalten mit Ethnizität verknüpft) das Mantra nicht nur der radikalen Rechten, sondern auch Teil des alltäglichen politischen Diskurses ist, werden die Steuerzahler diskriminierende Handlungen der Polizei immer für nutzbringend und effektiv halten.
* András L. Pap, profesor Eötvös University oraz Central European University w Budapeszcie. Pracownik Instytutu Studiów Prawnych Węgierskiej Akademii Nauk.
** Z języka angielskiego przełożył Łukasz Pawłowski.
***Aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt von Lisa Palmes.
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Katarzyna Kubin
Einwanderung in Polen: Ein Thema, das nicht zur Sprache kommt.
Wer ist der Fremde in Polen? Das Thema der Einwanderung und der Integration von Einwanderern ist in Polen noch nicht politisiert worden, das heißt, es wurde noch nicht als wichtiges Element in das politische Programm irgendeiner Partei aufgenommen. Das unterscheidet Polen von seinen westlichen Nachbarn: dort sind – nicht selten überaus hitzige – Diskussionen über die Geschichte der Einwanderung, über die Konsequenzen des Kolonialismus und der Masseneinwanderung (beispielsweise in Deutschland der Masseneinwanderung von Gastarbeitern in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts) und über die Einwanderungs- und Integrationspolitik des Staates an der Tagesordnung. Die Wähler in diesen Ländern berücksichtigen die Haltung politischer Lokalparteien in diesen Fragen, wenn sie alle paar Jahre ihre Stimme abgeben.
Sie kommen in eine Leere
Einwanderungspolitik bedeutet mehr als Vorschriften für die Vergabe von Visa, für die Bedingungen und Möglichkeiten der Aufnahme zum Beispiel eines Studiums oder einer Arbeit in Polen, für eventuelle Privilegien, die aus einer Eheschließung mit einem Staatsbürger oder einer Staatsbürgerin Polens resultieren, usw. Diese grundlegenden Fragen werden in erster Linie von dem Ausländergesetz und der es begleitenden Verordnung geregelt. Es fehlt jedoch an einer Strategie bezüglich der Einwanderung, an einer umfassenden Vision für die Prioritäten und Erwartungen, die der polnische Staat bezüglich nach Polen einreisender Ausländern hat, und für die Bedingungen, die er an den Prozesses der Integration von Einwanderern in die Gesellschaft stellt.
Im Jahr 2012 wurde ein von der Ressortübergreifenden Arbeitsgruppe für Einwanderung im Außenministerium erarbeitetes Dokument veröffentlicht, in dem erstmals eine Vision für die Einwanderungs- und Integrationspolitik in der Republik Polen vorgestellt wurde: „Die Einwanderungspolitik Polens – aktueller Stand und erforderliche Maßnahmen“ (einsehbar in polnischer Sprache auf: [Link]). Für die Erarbeitung dieses Dokumentes haben sich NGOs engagiert, die sich seit Jahren für die Einwanderer, die nach Polen einreisen, einsetzen. Das Dokument wurde öffentlich konsultiert, derzeit warten wir auf die Ergebnisse der Konsultation.
Als besonders bittere Konsequenz der in Polen fehlenden Einwanderungs- und Integrationspolitik ist für den Integrationsprozess von Einwanderern in der polnischen Gesellschaft keine staatliche Unterstützung vorgesehen. Das Ausländergesetz und die es begleitende Verordnung definieren nicht umfassend Fragen wie Hilfs- oder Bildungsprogramme, die es den Menschen erleichtern sollen, sich persönlich zu entwickeln, sich in Polen einzuleben, Arbeit zu finden und sich aktiv in das gesellschaftliche und ökonomische Leben in Polen einzubringen.
Es fehlt auch an einem System, aus dem beispielsweise diejenigen Vorteile ziehen könnten, die berufliche Qualifikationen mitbringen, die auf dem Arbeitsmarkt in Polen gefragt sind, oder diejenigen, die aktiv ihre polnischen Sprachkenntnisse ausbauen. In Polen existiert lediglich das sogenannte „individuelle Integrationsprogramm“ für diejenigen, denen die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus zuerkannt wurde. Die Zahl dieser Personen ist jedoch im Verhältnis zu allen Einwanderern in Polen äußerst gering. So hatten beispielsweise laut statistischer Angaben der Ausländerbehörde im Jahr 2012 von 111.971, die eine gültige Aufenthaltserlaubnis besaßen, etwa 3.000 das Recht, vom „Individuellen Integrationsprogramm“ zu profitieren (die Daten sind einsehbar auf: [Link]).
Obwohl sich NGOs darum bemühen, die Einwanderer, die nach Polen kommen, beim Integrationsprozess zu unterstützen, bedeutet das Fehlen einer Einwanderungs- und Integrationspolitik, dass die Arbeit dieser Organisationen nicht koordiniert wird. Selbst wenn die Vertreter und Vertreterinnen solcher Organisationen gut zusammenarbeiten, wird ihre Arbeit als Organisation von öffentlichen Geldern finanziert, deren Verteilungsstrategie sich nicht nach einer schlüssigen Vision richtet, weder bezüglich der Bedürfnisse der Einwanderer noch des polnischen Staates.
Polen als Transitland?
Es heißt, die Einwanderung in Polen habe Transitcharakter. Das entspricht jedoch nicht ganz der Realität, denn diese Überzeugung kommt daher, dass in erster Linie das Verhalten der Flüchtlinge betrachtet wird. Die große Mehrheit der Personen, die sich um den Flüchtlingsstatus in Polen bemühen, ist tschetschenischer Nationalität, viele von ihnen haben Familie und Verwandte in anderen Ländern Europas, in deren Nähe sie sein wollen. Doch die Personen, die sich um den Flüchtlingsstatus bemühen, haben in der Regel keinen Einfluss darauf, welcher Staat der Europäischen Union ihren Asylantrag prüft. Das bedeutet, dass die Personen, deren Asylantrag in Polen geprüft wird, wegen illegaler Grenzüberschreitung festgehalten werden, indessen werden derartige Vorkommnisse publik gemacht und dominieren das Bild der Einwanderung in Polen.
Anders sieht die Situation bezüglich Arbeitsmigration aus. Bevor Polen der Europäischen Union beigetreten ist, galten für die Bürger und Bürgerinnen mancher Länder, unter anderem der Ukraine, Sonderbedingungen bezüglich der Einreise nach Polen und des Aufenthalts in Polen. Im Zuge von Polens EU-Beitritt am 1. Mai 2004 wurden Polens Grenzen zu den östlichen Nachbarn, die nicht EU-Mitglieder, sind verstärkt. Man schätzt, dass die größte Immigrantengruppe in Polen heute noch immer Personen bilden, die aus der Ukraine stammen, wobei es sich nicht nur um Personen handelt, deren eigentliches Ziel der Westen ist. Solche Einwanderer gibt es viele und sie sind in Polen nicht nur auf der Durchreise, sondern sie überschreiten regelmäßig die Grenzen Polens, um ihre Familie in dem Land, aus dem sie stammen, zu besuchen, und dann wieder nach Polen zurückzukehren, wo sie leben und arbeiten oder studieren.
Die Überzeugung, dass die Einwanderung in Polen Transitcharakter hat, kann dazu führen, dass die Notwendigkeit einer schlüssigen Strategie für die Einwanderungs- und Integrationspolitik nicht als dringend betrachtet wird. Dabei würde eine solche Strategie bedeuten, dass eine bedeutende Einwanderergruppe, die in Polen lebt, arbeitet, studiert und sich entwickeln will, in manchen Bereichen mit der Verbesserung ihrer Situation in Polen rechnen könnte. Für viele Polinnen und Polen wäre das im Übrigen ein Grund, stolz zu sein darauf, dass Polen immer vielfältiger wird.
* Katarzyna Kubin hat an der London School of Economics an der Fakultät für Anthropologie und am Institut für Entwicklungsländer studiert. Sie ist Mitbegründerin und Vorsitzende der Stiftung für Gesellschaftliche Vielfalt.
** Das Biogramm wurde verfasst von Ewa Muszkiet.
*** Aus dem polnischen von Antje Ritter-Jasińska.
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* Konzept dieser Ausgabe: Karolina Wigura.
** Mitarbeit: Radosław Szymański, Hubert Czyżewski, Łukasz Pawłowski.
*** Koordination seitens Kultura Liberalna: Ewa Serzysko, Ewa Muszkiet.
**** Koordination seitens der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Monika Różalska, Magdalena Przedmojska.
***** Aus dem Polnischen von Antje Ritter- Jasińska (Katarzyna Kubin) und Lisa Palmes (Editorial, András L. Pap).
****** Illustrationen: Agnieszka Wiśniewska.
„Kultura Liberalna” nr 240 (33/2013) z 13 sierpnia 2013 r.
Das Thema der Woche gehört zu dem Zyklus, den die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und Kultura Liberalna im Rahmen eines deutsch-polnischen Projektes über die Zukunft der Europäischen Union gemeinsam erarbeiten.