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KULTURA LIBERALNA > Temat tygodnia > STREECK, SENNETT, SARYUSZ-WOLSKI,...

STREECK, SENNETT, SARYUSZ-WOLSKI, PAWŁOWSKI: Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

[ Wersja polska / polnische Version ]

Sehr geehrte Damen und Herren,

Agnieszka Gietko_rozsadzenie systemuWenn der sozialdemokratische Finanzminister eines großen EU-Landes erklärt, der Sozialstaat werde nicht abgeschafft, sehr wohl aber müsse der Sozialstaat auf Schulden abgeschafft werden, dann klingt das wie ein eristisches Kabinettstück – und gibt Anlass zu Besorgnis.

Die beiden Experten Jørgen Goul Andersen und Knut Halvorsen attestieren den europäischen Politikern in ihrem Buch zur Geschichte des europäischen Wohlfahrtsstaates eine weitreichende Amnesie: Sie hätten die einfache Wahrheit vergessen, dass dem Wohlfahrtsstaat ursprünglich die Idee zugrunde lag, durch die finanzielle Unterstützung einzelner Bürger könne man ihnen zu größerer individueller Freiheit und zu einer aktiveren Teilhabe an der Gesellschaft verhelfen. Heute ist nur noch die Rede von astronomischen Schulden, nicht konkurrenzfähiger Wirtschaften im Euroraum und unzufriedenen Bürgern. Bisweilen kann man sogar den Eindruck gewinnen, als fühlten sich alle irgendwie betrogen. Vielleicht sollte man also dem Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln für seine Offenheit danken, wenn er konstatiert, der Wohlfahrtsstaat sei Geschichte.

Wenn aber nicht der „Welfare State“, was dann? Die britischen Sozialdemokraten liebäugelten eine Zeit lang mit dem Begriff der „Big Society“, der auf der Idee des zivilgesellschaftlichen Engagements basiert. In Zeiten der Krise wollte man sich nicht dem Vorwurf aussetzen, man befürworte einen aufgeblähten und seine Bürger bevormundenden Staatsapparat. Die britischen Konservativen schieben die Schuld gern auf das „verschwenderische“ Brüssel. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals bastelte die Sozialistische Partei Frankreichs indessen an einer Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 75 Prozent und löste damit eine massive Steuerflucht aus – wahrte jedoch zumindest ihre linke Identität. Und die europäische extreme Rechte macht schon seit Jahren die Einwanderung für sämtliche Probleme verantwortlich.

Tatsächlich träumen die Europäer noch immer von einem Wohlfahrtsparadies. Aber was, wenn dies wirklich nur noch ein schöner Traum ist? Gerät durch den Wegfall eines der Grundpfeiler der europäischen Sozialordnung der letzten Jahrzehnte möglicherweise die Legitimation der gesamten EU ins Wanken?

Diese Fragen beantworten uns vier Autoren. Der namhafte deutsche Soziologe Wolfgang Streeck erklärt im Gespräch mit Karolina Wigura die Feststellung, der Wohlfahrtsstaat sei einer der Grundpfeiler der Europäischen Union für eine grobe Vereinfachung. Genau wie die Prophezeiung ihres Untergangs infolge der Krise von 2008. Ein solcher Grundpfeiler sei vielmehr der demokratisch-gezähmte Kapitalismus, ein Modell, das sich jedoch – aus Mangel an Alternativen – bereits seit den 70er-Jahren allmählich abnutzt.

Richard Sennett, einer der bedeutendsten Forscher zum Thema soziale Ungleichheit, nennt im Gespräch mit Jakub Krzeski zwar einige mögliche Alternativen, zweifelt jedoch an der Durchführbarkeit institutioneller Reformen. „Was mich bei dieser ganzen Krise am meisten beschäftigt, ist die Frage, warum es heute so schwer ist, die Menschen zu Protestkundgebungen zu mobilisieren. Die ganzen Occupy-Bewegungen sind zwar wirklich schön, aber bisher doch ein Phänomen mit einer sehr begrenzten Reichweite, dabei müssten wir längst zu wirklich radikalen Mitteln greifen”.

Jacek Saryusz-Wolski, Abgeordneter der Europäischen Volkspartei im Straßburger Parlament, warnt, dass infolge der Finanzkrise und der Krise des Wohlfahrtsstaates vor unseren Augen ein Europa zweier Geschwindigkeiten und zweier Legitimationen entsteht. Wenn es nicht gelingt, diesen Prozess aufzuhalten, wird die gemeinsame Eurozone bald von einer zweiten Umlaufbahn der übrigen Mitgliedsstaaten, die mit dem schnelleren Zentrum nicht mehr Schritt halten können, umgeben sein.

Łukasz Pawłowski schreibt über die von den britischen Konservativen verbreitete Vision des Wohlfahrtsstaates, dem Projekt Big Society. Dieses Konzept hat seit 2010 mit dem Versprechen starker lokaler Gemeinschaften, die den ausgebauten Staat ersetzen sollen, auch die Linken begeistert. Pawłowski erklärt, warum Big Society sich als Luftschloss entpuppt hat und wie es dazu gekommen ist, dass der Staat nichts im Gegenzug hinterlässt, wenn er sich aus immer mehr Bereichen zurückzieht.

* * *

Das vorliegende Thema der Woche setzt eine Reihe über die Zukunft der Europäischen Union fort, die von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und dem Magazin Kultura Liberalna erstellt wird.

Bisher erschienen: “Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?” mit Beiträgen von Ivan Krastev, Clyde Prestowitz, Karolina Wigura und Gertrud Höhler sowie “Die Europäische Union ist ein Club der gedemütigten Imperien”, das einzige Interview, das Peter Sloterdijk in den letzten Jahren der polnischen Presse gab. Weitere Ausgaben folgen in Kürze!

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.

Jarosław Kuisz


1. WOLFGANG STREECK: In der Kriese verliert die Demokratie immer mehr an Bedeutung
2. RICHARD SENNETT: Es wird Zeit, dass wir der globalen Wirtschaft die Stirn bieten
3. JACEK SARYUSZ-WOLSKI: Ein gespaltenes Europa?
4. ŁUKASZ PAWŁOWSKI: Wenn kein Sozialstaat, was dann?


In der Krise verliert die Demokratie immer mehr an Bedeutung

Wolfgang Streeck im Gespräch mit Karolina Wigura

[Lesen Sie das gesamte Interview HIER]

Karolina Wigura: Herr Streeck,  wie ist es um die gegenwärtige Verfassung des europäischen Wohlfahrtsstaats bestellt? 

Wolfgang Streeck: Wir sehen ganz deutlich, dass im Mittelmeerraum, einschließlich Portugal, Italien und Griechenland, 50 Prozent der jungen Menschen arbeitslos sind, die Renten ständig gekürzt werden, die Gesundheitssysteme an ihre Grenzen stoßen und zum Teil bereits zusammen gebrochen sind. Diese seit den 1930er Jahren längste Krise – sie ist ja schon fast fünf Jahre alt- ist der Anlaß dafür, dass in diesen Ländern alles was man mit  dem Wohlfahrtstaat, Versicherungen, Arbeitsmarktpolitik usw., mit dem ganzen demokratischen Kapitalismus verbindet, sozusagen radikal abgeräumt wird. Aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur ist Deutschland in einer ganz anderen Situation. Wir sind nicht so auf Finanzen und Banken konzentriert wie zum Beispiel Großbritannien. Und wir können diese wunderschöne Audis und Mercedes und Volkswagen in die Welt exportieren… Man kann aber selbst in Deutschland einen Prozess des Staatsabbaus, des Rückbaus des Staates, beobachten. Überall ist auch die Liberalisierung der sozialen Sicherheitssysteme zu beobachten. Großbritannien ist ein klassischer Fall, aber auch die skandinavischen Länder befinden sich in einem Prozess der systematischen Beschränkung staatlicher Aufgaben im Bereich der sozialen Sicherung.

Was sind die Ursachen dieses Prozesses?

Die Wohlfahrtstaaten sind heute in hohem Masse verschuldet. Und diese Schuldenpyramide hat zur Folge, dass die Kreditgeber – also die Geldmärkte – immer stärkere Beweise dafür verlangen, dass diese Schulden in Zukunft bedient werden können. Das ist eher ein Kampf der Rentiers gegen die Rentner. Verstehen Sie, die Rentiers sind die, die Zinsen bekommen und die Rentner sind die, die Renten bekommen… Wer hat als erster Anspruch auf die Konkursmasse des Wohlfahrtstaats? Die Rentiers sind natürlich der Absicht, es muss durchgesetzt werden, dass sie die ersten sind. Historisch waren aber Staaten immer in erster Linie dem Bürger verpflichtet, und nicht den Finanzmärkten. Es gibt aber keine Möglichkeit im internationalen Recht, womit die Staaten völlig einseitig erklären könnten, dass sie ihre Schulden nicht mehr bezahlen können. Deshalb wird dieses Problem zur Zeit gelöst, indem die Staaten unter Druck gesetzt werden, in erster Linieund zur Not auf Kosten ihrer Bürger ihre Schulden zu bezahlen.

Wenn wir über die wichtigsten Quellen der Legitimität für das europäische Projekts nachdenken, finden wir meiner Meinung nach zwei. Erstens, die Angst von der totalitären Vergangenheit. Zweitens, das Versprechen von Wohlfahrt, das für Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Europäischen Sozialstaat verbunden wurde. Wir sind aber in der Mitte eines Prozesses des Vergessens: Für die neuen Generationen der Europäer ist das Motto „Nie weniger“ immer weniger klar. Mit der Krise des Wohlfahrtstaates ist auch die zweite Quelle der Legitimität hinfällig… Finden Sie diese Situation für die Europäische Union gefährlich? Wo können wir nach neuen Legitimitätsquellen suchen?

Ich bin nicht sicher, ob man das so sagen kann. Was dem ersten Teil betrifft, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Nach dem Krieg ging es darum, den westlichen Teil Deutschlands so anzubinden, dass von Deutschland keine Gefahr mehr ausgehen konnte. Das war zum Teil gesichert durch die deutsche Teilung, und zum Teil dadurch, dass man den Deutschen eine Möglichkeit eröffnet hat, in Europa friedlich zu leben. Und dieses Leben bestand darin, dass die Deutschen, die immer eine starke Industrieproduktion hatten, die gesicherte Möglichkeit bekamen, ihre Waren innerhalb Europas zu verkaufen. Die Sicherung der Absatzmärkte, die für Deutschland immer ein zentrales Problem war, wurde auf diese Weise sichergestellt.

Und was den Wohlstand betrifft?

Der entstand so, dass man die Märkte erweiterte, und dies hatte eine im klassisch liberalen Sinne Herstellung von Wohlstand durch Freihandel zur Folge. Eine notwendige Korrektur der Marktwirtschaft auf nationaler Ebene in Gestalt desWohlfahrtstaats hat stattgefunden. Märkte wurden eingerichtet, man musste diese aber gleichzeitig korrigieren, soziale Sicherheiten einbauen, Streikrechte gewährleisten usw. Diese Korrekturen fanden auf nationaler Ebene statt. Und dies ging bis in die 1990er Jahre gut, als die Liberalisierung der Ökonomie in Westeuropa einen Punkt erreicht hatte, wo sie auch die nationalen – nennen wir sie mal – „Marktbremsungsregime“ anfing, anzugreifen. . Seitdem ist die EU eher zu einer Kraft des Neoliberalismus und weniger des Wohlfahrtstaats geworden. Wir haben heute eine Situation, in der die alten Formen des Schutzes vor Märkten in den westlichen Ländern ständig durch die Europäische Kommission aus Brüssel angegriffen und dominiert werden. Insofern kann man nicht mehr sagen, dass die Legitimität der europäischen Integration heute auf der Korrektur des Marktes basiert, sondern sie basiert auf der Durchsetzung des Marktes.

[Lesen Sie das gesamte Interview HIER]

* Wolfgang Streeck ist ein deutscher Soziologe und Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Er hat letztens „Re-Forming Capitalism: Institutional Change in the German Political Economy” (2009) und „The Crises of Democratic Capitalism” (In: New Left Review, no. 71, 2011) veröffentlicht.

** Karolina Wigura ist eine polnische Soziologin und Journalistin. Mitglied der Redaktion von „Kultura Liberalna” und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Warschau. Zur Zeit ist sie als Junior Visiting Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) tätig.

*** Übersetzung: Karolina Wigura und Jutta Wiedmann.

Agnieszka_Gietko_Siatka swiadczen socjalnych

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Es wird Zeit, dass wir der globalen Wirtschaft die Stirn bieten 

Richard Sennett im Gespräch mit Jakub Krzeski

[Lesen Sie das gesamte Interview HIER]

Jakub Krzeski: In ihrem Buch „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“, das unlängst in Polen erschien, beschäftigen Sie sich vor allem mit dem institutionellen Mangel an Respekt gegenüber dem Individuum. Hintergrund ihrer Überlegungen ist das US-amerikanische Sozialsystem und nicht der europäische Kontext. Wie stellt sich dieses Thema aus der Sicht der Staatsschuldenkrise im Euroraum dar?

Richard Sennett: Überlegen Sie nur einmal, wie man versucht, die griechische Finanzkrise zu erklären. Man sagt, dass die Griechen ihre Steuern nicht zahlen, dass sie von der Schattenwirtschaft abhängig sind und sich auf die staatlichen Sozialleistungen verlassen. Man verwendet kulturalistische Argumente, um die dortige Finanzkrise zu erklären und die Unterdrückung der Ärmsten und Schwächsten zu legitimieren. Die Tatsache, dass jemand Grieche ist, stellt für die Banken einen ausreichenden Grund dar, ihn schlecht zu behandeln. Als ein Beispiel können hier die Äußerungen von Angela Merkel dienen. Wenn sie sagt, die Griechen müssten härter arbeiten, um die Krise zu überwinden, nimmt sie die Banken damit de facto aus der Verantwortung. Genau das meine ich, wenn ich von einem institutionellen Mangel an Respekt rede.

Man kann aber doch argumentieren, dass die Deutschen hart arbeiten und gewissenhaft ihre steuerlichen Pflichten erfüllen – und im Gegenzug wird ihnen das Geld aus der Tasche gezogen, damit andere ihre Schulden bezahlen können. Aus dieser Sicht ist Merkels Ungeduld gegenüber Griechenland doch verständlich.

Ich kann solche Argumente nur sehr schwer nachvollziehen. Ich denke, dass es sich die Deutschen sehr einfach machen. Zum Glück denken nicht alle so, wie Sie es schildern, aber in dieser Haltung äußert sich ein gewisses Gefühl einer kulturellen Überlegenheit, um es einmal milde auszudrücken. Dabei sind weder die Deutschen noch die Griechen für die Krise verantwortlich. Wenn man schon jemanden dafür zur Verantwortung ziehen möchte, dann die Banken. Goldmann Sachs, die ungeheure Summen an den griechischen Schulden verdient haben. Wenn ich Grieche wäre, würde ich niemandem etwas zahlen. Ich sehe keinen Grund, warum ein Volk, das von seiner eigenen Elite und von den Bankiers über den Tisch gezogen wurde, die Schulden einer reichen Klasse von Kapitalisten begleichen sollte.

Wenn eine Rückzahlung der Schulden nicht infrage kommt, wie kann man dann die Wirtschaft wieder in die Spur bringen?

Eine institutionelle Lösung wäre, verstärkt auf kleine Unternehmen zu setzen und nicht auf große internationale Konzerne. Die globale Wirtschaft von den Finanzmärkten abzukoppeln. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, aber wenn wir das Ausmaß der Finanzspekulationen begrenzen, könnten wir damit eine gewisse Stabilität herstellen. Das Problem ist, dass wir es zusätzlich mit einer Krise des Kapitalismus an sich zu tun haben. Institutionen wie die Weltbank lassen sich nicht davon überzeugen, dass es unbedingt notwendig ist, den Finanzkapitalismus einzudämmen und ihm ein sozialeres Antlitz zu verleihen.

Sie selbst glauben nicht an die Wahrscheinlichkeit institutioneller Reformen – können wir also damit rechnen, dass es in Zukunft keine weiteren Erschütterungen der weltweiten Finanzmärkte mehr geben wird?

Es sieht ganz so aus, als würden wir es in nächster Zukunft mit weiteren Zusammenbrüchen zu tun bekommen. Wir haben noch mindestens fünf Jahre der Krise vor uns, bis sich ein breiter gesellschaftlicher Widerstand gegen solche Vorgänge wie zuletzt in Griechenland regen wird. Was mich bei dieser ganzen Krise am meisten beschäftigt, ist die Frage, warum es heute so schwer ist, die Menschen zu Protestkundgebungen zu mobilisieren. Die ganzen Occupy-Bewegungen sind zwar wirklich schön, aber bisher doch ein Phänomen mit einer sehr begrenzten Reichweite, dabei müssten wir längst zu wirklich radikalen Mitteln greifen. Wir müssten die Bankiers ins Gefängnis stecken. Sie haben schließlich ein unvorstellbares Unrecht begangen, und doch versuchen die Menschen ständig, das alles zu rationalisieren und sich einzureden, dass es eben so kommen musste.

Das ist ein ziemlich extremer Standpunkt, ich denke einmal, sie sprechen von einem bestimmten Kreis von Personen, denen man eine juristische Schuld nachweisen könnte … Ich würde vorschlagen, dass wir die Situation einmal aus einer weiteren Perspektive betrachten. Könnten Sie vielleicht versuchen, eine Landkarte der sozialen Ungleichheiten im heutigen Europa zu zeichnen?

Ganz sicher würde sich meine Landkarte kaum mit der vorherrschenden Meinung decken. Also der Unterscheidung zwischen dem reichen Norden – Deutschland, Skandinavien, Großbritannien und Frankreich – und den ärmeren Nachbarn im Süden. Diese Karte ist falsch. Es reicht nicht, einfach nur das Wohlstandsniveau und das Bruttoinlandsprodukt miteinander zu vergleichen. Für eine solche Darstellung sind wesentlich differenziertere und subtilere Methoden notwendig. In vielerlei Hinsicht ist Großbritannien heute eine ungleichere Gesellschaft als Spanien.

[Lesen Sie das gesamte Interview HIER]

* Richard Sennett ist Soziologe und Professor an der London School of Economics und der New York University. 

** Jakub Krzeski ist Mitglied des Redaktionskomitees des Warschauer Wochenmagazins ”Kultura Liberalna” [Liberale Kultur].

*** Übersetzung: Heinz Rosenau.

Agnieszka_Gietko_Niekorzystne tendencje demograficzne

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Jacek Saryusz-Wolski

Ein gespaltenes Europa?

Im geopolitischen Sinne bildet sich vor unseren Augen eine Union der zwei Geschwindigkeiten und zwei Legitimitäten heraus. Wird dieser Prozess nicht aufgehalten, wird sich um die Eurozone, die die Integration vertieft, ein Ring aus den übrigen Mitgliedsländern bilden, die mit dem davoneilenden Zentrum nicht mehr mithalten können.

Das Vertrauen wieder aufbauen

Der wirtschaftliche Kollaps hat das Ungleichgewicht und die Schwächen der europäischen Konstruktion enthüllt. Er hat auch die Ausmaße der Wohlstandsstaaten enthüllt und zwingt dazu, diesen Wohlstand zu revidieren. Die Strukturreformen, die die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft sowie ihre Innovativität beeinflussen, sind notwendig, wie schmerzhaft sie auch immer sein mögen. Sie bedeuten ganz und gar nicht ein Abwenden von der Legitimität der EU, die auf Wohlstand basiert, sondern ihre Neudefinierung und die Einführung von Regelungen, die einhaltbar sind, ohne dass die Gesamtkonstruktion in Gefahr gerät.

Jahrelang haben die europäischen Gesellschaften mehr ausgegeben als sie eingenommen haben, während die Politiker die verantwortungsvolle Verwaltung öffentlicher Gelder auf dem Altar des Wahlkampfes opferten. Der Wille, den Wünschen der Gesellschaft und dem Versprechen eines allgemeinen Wohlstandes gewachsen zu sein, hat in vielen Ländern zu einer Überschuldung von Staat und Banken geführt- dies ist die Antithese zur Sorge um das Gemeingut.

Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen Europa zu kämpfen hat, ist es oft schwer, die negativen Folgen langjährigen verantwortungsloser Entscheidungen von Mitgliedsländern, Banken und den Bürgern selbst von reinen EU-Maßnahmen zu unterscheiden. Insbesondere, weil auf das symbolische „Brüssel“ oft die Schuld für Phänomene geschoben wird, auf die Brüssel im Grunde keinen Einfluss hatte. Diese Verformung der Rolle der EU ist besonders in der entstellten öffentlichen Debatte in Großbritannien zu sehen, sie kommt aber auch in anderen Ländern vor, unter anderem in Polen.

Ein gutes Funktionieren der neuen Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion in der Zukunft (hoffentlich erweitert auf alle Mitgliedsstaaten, die dies wollen), in ihren neuen Dimensionen wie die Fiskalunion, die Bankenunion, die wirtschaftliche und politische Union, wird ein wichtiges Legitimationselement des europäischen Projektes sein. Dann wird neben der formalen demokratischen Legitimation, die auf demokratischen Entscheidungsprozeduren basiert, deren wichtigste Stütze und Hoffnung das Europäische Parlament ist, noch einmal die sogenannte Output-Legitimation an Bedeutung gewinnen, sprich die Fähigkeit des europäischen Systems, Sicherheit und Wohlstand zu garantieren.

Das Zentrum entfernt sich

Auf diese Weise wird als Konsequenz der Krise oder vielleicht dank der Krise die mögliche weitere Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses skizziert. Leider ist dieser Prozess nicht frei von Schwachpunkten. Er kann dazu führen, dass ein halbherziges Europa entsteht, das gespalten ist, teilweise flach und territorial reduziert. Deutlich präsent sind nämlich die Absichten, zu einem kleinen karolingischen Europa zurückzukehren, sich zurückzuziehen von der Erweiterung zugunsten einer engeren Integration im Rahmen der Eurozone selbst, hauptsächlich in Westeuropa. Die Wiederherstellung der Teilung Europas in die Eurozone und die übrigen Mitgliedsländer, stellt derzeit die größte Gefahr dar.

Beunruhigend ist die wachsende Solidarität der Eurozone auf Kosten der allgemeinen Solidarität in der EU. Sie stellt die Integrativität und die Legitimation der gesamten Gemeinschaft infrage. Unterdessen denkt man in manchen Kreisen der sogenannten alten EU immer häufiger darüber nach, separate Institutionen für die Eurozone zu gründen und ihr das Recht auf Selbstbestimmung und ein separates Budget zu gewähren. Eine Spaltung kann also Institutionen mit grundlegend gemeinschaftlichem Charakter betreffen, indem sie zwei diametrale Solidaritätslevel sowie zwei divergente ökonomische Zielrichtungen hervorbringt – die der Eurozone und die schwächere, eingeschränkte, die weniger ausgerichtet ist auf beispielsweise Sozialfragen innerhalb der 27, bzw. bald schon 28 Staaten.

Im geopolitischen Sinne bildet sich jedoch vor unseren Augen eine Union der zwei Geschwindigkeiten und der zwei Legitimierungen heraus. Wenn dieser Prozess nicht aufgehalten wird, wird die Eurozone, die die Integration vorantreibt, bald von einem Ring umgeben sein, bestehend aus den übrigen Mitgliedsländern, die mit dem davoneilenden Zentrum nicht mehr mithalten können.

Die Perspektive eines gespalteten Europas, mit einer doppelten Legitimation, birgt die Gefahr, dass sich zwei verschiedene Varianten herausbilden für die Umlegung dieser Werte auf konkrete Entscheidungen, die gemeinsam getroffen werden. Polen steht heute vor einer fundamentalen und strategischen Wahl – entscheiden wir uns für die Peripherie oder für den Kern der europäischen Integration; geben wir uns zufrieden mit einer Legitimation, die auf die „Brüssel-Gelder“ reduziert ist, die nebenbei gesagt zusammenschrumpfen werden, oder suchen wir sie im europäischen zivilgesellschaftlichen Modell sowie im gemeinsamen Wertekanon?

* Jacek Saryusz-Wolski ist EU-Abgeordneter der Partei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska), ehemaliger Minister für Europäische Angelegenheiten in den Jahren 1991-96 und 2000-01, Vizevorsitzender der Europäischen Volkspartei sowie Mitglied der Budgetkommission des Europäischen Parlaments.

** Übersetzung: Antje Ritter-Jasińska

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Łukasz Pawłowski

Wenn kein Sozialstaat, was dann?

Als während der Eröffnungszeremonie zu den Olympischen Sommerspielen im Olympiastadion in London plötzlich Dutzende als Krankenschwestern verkleidete Schauspielerinnen auf den Rasen liefen und ihre kleinen Patienten bettfertig machten, lobten die Zuschauer nicht nur in Großbritannien die Veranstalter für die schöne Hommage an das britische Gesundheitswesen, die durch die Blume an den britischen Wohlstandsstaat gerichtet war. In Wirklichkeit aber war nicht nur diese Szene, sondern die gesamte Zeremonie eine Hommage an ein Großbritannien, das inzwischen fast der  Vergangenheit angehört. In den idyllischen englischen Landschaften ist nach der Zeit der Imperialmacht die Zeit – so der Regisseur des Spektakels Danny Boyle – zum Abschied vom Wohlfahrtsstaat gekommen, einem weiteren Element der britischen Identität.

Von allen Seiten hören wir, dass das bisherige Modell des Sozialstaates, das nach dem zweiten Weltkrieg in Westeuropa aufgebaut wurde, Veränderungen erfordert. Wie nämlich soll man einen starken Staat aufbauen, der nach dem Ausgleich gesellschaftlicher Unterschiede strebt, wenn der Einfluss der Politiker auf das Schicksal der Länder zurückgeht, weil internationale politische und wirtschaftliche Institutionen immer mehr zu sagen haben; wenn die Gesellschaften immer unterschiedlicher werden, was wiederum die soziale Solidarität schwächt; wenn die demografischen Zahlen zeigen, dass die Aufrechterhaltung der Sozialfürsorge auf dem derzeitigen Niveau nicht möglich ist? Seit Jahren wird eine Frage immer wieder gestellt: Wie den immer größer werdenden Staat mit dem – von schließlich fast allen politischen Kräften geschätzten – Ideal der individuellen Freiheit und der Selbstverwirklichung in Einklang bringen?

Ein Teil der auf diese Weise an die Wand gedrückten Linksliberalen antwortet, die einzige Lösung sei die Rückkehr zur aktiven Bürgergesellschaft, die Entmachtung der zentralen Institutionen und ihre Übergabe an die möglichst niedrigste Ebene: an starke, von unten organisierte gesellschaftliche Gruppen. Eine solche Lösung soll zumindest in der Theorie eine Antwort sein auf die Mehrheit der zuvor erwähnten Phänomene, die das bisherige Modell des Sozialstaates untergraben. Erstens führt eine solche Lösung zu Einsparungen, weil der bürokratische Apparat verkleinert wird. Zweitens gibt sie angesichts der wachsenden Unterschiede der modernen Gesellschaften den lokalen Strukturen die bei der schnell wechselnden Zusammensetzung und für die Lebensbedingungen lokaler Gemeinschaften notwendige Flexibilität. Drittens führt die Aktivierung der Bürger auf lokaler Ebene zum Wiederaufbau zerrissener gesellschaftlicher Bindungen und Hilfsnetzwerke. Im Endeffekt schafft es neue Möglichkeiten für die Pflege der jüngsten und ältesten Gemeinschaftsmitglieder, und kann dabei zumindest teilweise zur Änderung ungünstiger demografischer Trends beitragen. Und viertens gibt diese Lösung dem Volk die Macht, dem Individuum mehr Freiheit, und sie macht den Staat nicht nur kleiner, sondern auch transparenter. Gleichzeitig gestattet sie der Linken, dem Vorwurf zu entgehen, sie würde einen zu großen und „überfürsorglichen“ Staat bauen.

Alle oben aufgeführten Argumente sind in Großbritannien auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Ein Teil der dortigen Linken, der enttäuscht ist von der Niederlage von Tony Blairs „drittem Weg“ hat diese Argumente unterstützt, obwohl sie von David Cameron stammten, dem Leader der Konservativen Partei, der mit dem Motto „Aufbau einer großen Gesellschaft“ (Big Society) in die Parlamentswahlen ging. Noch 2010 hatte der ehemalige Abgeordnete der Labour Party und Professor der Universität in Oxford, David Marquand, in  Kultura Liberalna den „kritiklosen Etatismus“ seiner früheren Gruppierung angegriffen. Den Regierungen Blair und Brown warf er vor, einen „zwanghaften Sozialstaat zu schaffen, der dem Individuum um keinen Preis die geringste Selbständigkeit gestatten will“. Er verteidigte Cameron, indem er behauptete, dessen Appell sei ein interessanter Gedanke „auf der Suche nach einem Weg, der die individuelle und die soziale Sichtweise verbindet“, und nicht nur ein angenehmer Deckmantel für die radikalen Kürzungen von Sozialausgaben und für die Entlastung der staatlichen Schultern, von denen die Verantwortung für die Geschicke der Gesellschaft genommen wird. Obwohl viele Sympathisanten der britischen Linken und Liberalen bereits damals Big Society für eine umgearbeitete Version des Anti-Etatismus von Margaret Thatcher hielten, sah Marquand in den Reden von Cameron den Einfluss des klassischen britischen liberalen Gedankens, der gerade in der Stärkung der lokalen Gemeinschafen die Möglichkeit zur Verbindung der individuellen Freiheit mit gesellschaftlicher Harmonie und notwendiger Flexibilität für die Anpassung an die sich verändernden Lebensbedingungen sah. Marquand ist wie der Autor des vorliegenden Textes der Meinung, dass anstatt sich auf die Aushängeschilder von Parteien zu konzentrieren, dieser neuen Macht Gelder für die Verwirklichung von Wahlverspechen gegeben werden sollten.

Zwei Jahre später und nachdem Hunderte Millionen Pfund aus dem Budget gestrichen wurden, ist die Idee vom Aufbau eines neuen Wohlfahrtsstaates auf den Fundamenten der Big Society keinen Millimeter weitergekommen. Der Staat zieht sich aus immer mehr Bereichen zurück und hinterlässt im Gegenzug nichts. Die Träume der dem Etatismus abgeneigten Linksliberalen, geringgeschätzt von der Konservativen Partei, landen zum wiederholten Mal in einem ideellen Gefrierschrank. Der Leader der Labourparty hatte seinen Kampf gegen die Krise bereits auf dem – notabene konservativen – Ideal der allgemeinnationalen, und nicht lokalen Solidarität aufgebaut.

Wer auch immer diese lokalen Ideale wieder ans Tageslicht holt, muss die Grenzen zwischen lobenswerter Aktivität von unten und der bequemen Entscheidung, die Menschen sich selbst überlassen, besser definieren.

Die Niederlage von Big Society in Großbritannien sollte nicht nur für die britische, sondern auch die europäische Linke eine Lehre sein. Sie könnte auch für die polnische Linke eine Lehre sein, wäre da nicht die Tatsache, dass die polnische Linke, oder zumindest ihre Repräsentation im Parlament, nicht nur keine schlüssige Gesellschaftsvision für die Welt nach der Krise erarbeitet hat, sondern eine solche große Erzählung nicht einmal zu kreieren versucht. Die linken Politiker die seit Jahrzehnten in der polnischen Politik unterwegs sind – wenn auch seit fast zehn Jahren in der Opposition – sind immer weniger an Ideen, dafür immer mehr an einem zeitweiligen politischen Spiel interessiert.

* Łukasz Pawłowski, Redaktionssekretär von „Kultura Liberalna”.

** Übersetzung: Antje Ritter-Jasińska

Jabba

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* Konzept dieser Ausgabe: Łukasz Pawłowski.

** Mitarbeit: Jakub Krzeski, Anna Piekarska, Jakub Stańczyk, Jutta Wiedmann.

*** Koordination des gemeinsamen Projektes der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und der „Kultura Liberalna”: Monika Różalska und Ewa Serzysko.

**** Illustrationen: Agnieszka Gietko.

„Kultura Liberalna” Nr. 217 (10/2013) vom 5. März 2013

Das vorliegende Thema der Woche setzt eine Reihe über die Zukunft der Europäischen Union fort, die von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und dem Magazin Kultura Liberalna erstellt wird.

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Nr 217

(9/2013)
5 marca 2013

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