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Sehr geehrte Damen und Herren,
kann es sein, dass den Bundestagswahlen mehr Bedeutung beigemessen wird als den Wahlen zum Europaparlament? Da scheint viel Wahres dran zu sein, denn nur wenige Themen haben in den vergangenen Wochen derartige Aufregung bei den internationalen Kommentatoren erzeugt, wie das Ergebnis der am kommenden Sonntag bevorstehenden Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Kein Wunder, denn auf das Land, das vor noch genau einem Jahrzehnt Katinka Barysch vom Centre for European Reform als „kranken Menschen Europas“ bezeichnet hatte, und das – wie einer der bekanntesten Ökonomen vom Rhein, Hans-Werner Sinn, nahelegte – kaum zu retten sei, schaut man heute mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid. Seit der Krise der Eurozone wird die deutsche Wirtschaft immer häufiger als Vorbild für Europa genannt, wobei empfohlen wird, Gerhard Schröders Reformen aus den Jahren 2003-2006 zu kopieren. Man denke nur an den bezeichnenden Titel der Studie von The Economist aus dem vergangenen Jahr: „Modell Deutschland über alles“.
Diese Atmosphäre begünstigt die großen Hoffnungen, die in Deutschland gesetzt werden. Dass – um mit den Worten Timothy Garton Ashs zu sprechen – das mächtigste Land Europas nicht nur zur Schaffung einer stabilen und für ausländische Märkte wettbewerbsfähigen Eurozone führt, sondern sich auch an die Spitze einer starken und glaubwürdigen Europäischen Union stellt. Derartige Erwartungen haben sogar polnische Politiker verlauten lassen, so zum Beispiel Radosław Sikorski in seiner Berliner Ansprache im Jahr 2011.
Vieles deutet darauf hin, dass die großen Hoffnungen vergeblich sein werden. Warum? Einige unserer heutigen Autoren sind der Meinung, dass Angela Merkel nicht in der Lage sein wird, Europa dorthin zu führen, selbst wenn sie – worauf vieles hindeutet – zum dritten Mal als Kanzlerin wiedergewählt wird. Judy Dempsey scheint darauf hinzudeuten, die Abneigung Deutschlands gegen die Übernahme der europäischen Führung ist mit dem unverwechselbaren Stil von Merkel als Leader verbunden. Dieser sei ihrer Meinung nach anhand der Ausweichmanöver zu sehen, die die Kanzlerin in zentralen Bereichen der Politik macht, wie beispielsweise im Bereich Sicherheit und Verteidigungsbereitschaft. Würde also jemand neues an der Spitze der Bundesrepublik Deutschlands reale Veränderungen und eine weniger zurückhaltende und stärker visionäre Herangehensweise an die Politik bringen?
Es gibt nicht viele Gründe dafür, warum man davon ausgehen sollte. Kürzlich hat Ulrike Guérot von European Council on Foreign Relations darauf hingewiesen, dass Deutschland von seinen eigenen Probleme blockiert ist: angefangen bei der wachsenden Armut innerhalb der drastisch größer werdenden Gruppe älterer Menschen bis hin zur gewaltigen Ungleichheit der Löhne. Genau diese Probleme stehen im Zentrum der Debatten vor den Wahlen, was im Übrigen zu den Vorwürfen eines langweiligen Wahlkampfes geführt hat.
Zweitens lässt sich aus soziologischer Sicht sagen – und dazu neigen Piotr Buras und Claus Leggewie – dass Deutschland selbst nicht zu radikalen Veränderungen bereit ist. Laut Buras bringt es nichts, darüber nachzusinnen, ob die verbreitete Bewertung Merkels als postpolitische Teflon-Politikerin gerecht ist. Es sei nämlich kein Zufall, dass gerade jemand mit ihrem Profil alle Beliebtheitsrekorde bricht. Deutschland selbst sei nicht dazu bereit, in einigen Bereichen der Politik die Weichen umzulegen. Ähnlich denkt Leggewie. Schade, denn in der Bundesrepublik Deutschland sind andere als die heutige Koalition möglich, und sie könnten dazu führen, dass beispielsweise in Europa ein Programm der ausgeglichenen Energiepolitik entsteht, die für die Integration genauso wichtig ist, wie für die Länder im Süden, damit diese aus der Rezession herauskommen. Leggewie spart hier nicht mit Kritik an der polnischen Regierung und ihrer Energiepolitik.
Kann eine Energiepolitik im Sinne der Energiewende die Europäische Union retten? Bei all ihren Vorteilen (die wir in der Ausgabe „Freiheit, Klima, Elektrizität“ diskutiert haben), lässt sich daran zweifeln. Man kann auch Vorbehalte bezüglich der Frage haben, ob es für die Gemeinschaft gut ist, sich ausschließlich auf die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bereitschaft oder ihren Unwillen, die führende Rolle zu übernehmen, zu konzentrieren – diese Frage bespricht Marek Prawda. Je schneller wir zur Normalität zurückkehren, umso besser, so Prawda. Die erste positive Auswirkung der Bundestagswahlen wird seiner Meinung nach die Beendigung einer Reihe fruchtloser Streitigkeiten sein, so dass man sich wieder dem Kern der europäischen Debatte widmen könne. Was die Stimmungen der Wähler betrifft werde „diese Gesellschaft den wahren Ausdauertest erst wesentlich später durchlaufen, wenn Berlin gezwungen sein wird, eine eventuelle Restrukturierung der Schulden der Länder vorzunehmen, die unter die Hilfsprogramme fallen, das bedeutet: reale Ausgaben, und nicht nur Kredite.“
Abgeschlossen wird diese Ausgabe von zwei Analysen, die die Diskussion über die Rolle Deutschlands in Europa erweitern. Die Debatte über die Führungsrolle Deutschlands hat in den Europäern steckende Ressentiments aufgeweckt, die im Internet, in der Presse und auf Demonstrationen symbolisch verkörpert werden von Bildern mit Angela Merkel in SS-Uniform. Diese Bilder haben selbst in Berlin einen Schock ausgelöst. Jarosław Kuisz regt dazu an, in der Zeit der Krise und der wiederkehrenden Ressentiments wieder über den Geschichtsunterricht nachzudenken. Er spricht davon in einer Zeit, da die Gelder für Bildung in ganz Europa gekürzt werden (ebensolche Kürzungen waren in Deutschland im Rahmen der erwähnten Reformen von Gerhard Schröder vorgenommen worden). Małgorzata Ławrowska hingegen stellt Überlegungen über die deutschen Institutionen, die über Demokratie debattieren, an und fragt sich, ob, wenn in Internetportalen zum Star des Fernsehduells zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück die dreifarbige Halskette der Bundeskanzlerin erklärt wird, die debattierenden Institutionen stark genug sein werden, um die Zeit der Krise zu überstehen? Und wo sollte man diese Institutionen, außerhalb des Internets, suchen?
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Das Thema der Woche gehört zu einem Ausgaben-Zyklus, der gemeinsam von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und der Kultura Liberalna im Rahmen eines Projektes über die Zukunft der Europäischen Union erarbeitetet wurde.
Bisher sind in diesem Zyklus erschienen: „Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?“ mit Texten von Ivan Krastev, Clyde Prestowitz, Karolina Wigura und Gertrud Höhler; „Die Europäische Union ist ein Club der gedemütigten Imperien“ – das in den vergangenen Jahren einzige Interview mit Peter Sloterdijk für die polnische Presse; „Der Traum vom Wohlfahrtsstaat“ mit Texten von Wolfgang Streeck, Richard Sennett, Jacek Saryusz-Wolski und Łukasz Pawłowski; „Freiheit, Klima, Elektrizität!“ mit Texten von Claudia Kemfert, Wojciech Jakóbik, Grzegorz Wiśniewski und Jakub Patočki; „Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?“ mit Texten von Necla Kelek, Saskia Sassen, András L. Pap und Katarzyna Kubin. Schon bald erscheinen weitere Ausgaben.
Viel Freunde bei der Lektüre!
Karolina Wigura
* Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska.
1. JUDY DEMPSEY: Unwillige Führerin
2. CLAUS LEGGEWIE: Der Präsentismus der Politik von Angela Merkel ist lähmend
3. PIOTR BURAS: Wie weiter nach der Merkel-Ära?
4. MAREK PRAWDA: Die Krisenpädagogik
5. JAROSŁAW KUISZ: Über den Zusammenhang zwischen Finanz- und Erinnerungspolitik
6. MAŁGORZATA ŁAWROWSKA: Wortgefechte vor den Wahlen
Unwillige Führerin
Angesichts der Krise in der Euro-Zone bestimmte Kanzlerin Angela Merkel die politische Richtung für Europa. Es ist immer noch zu früh um festzustellen, ob die Sparpolitik, auf die die Kanzlerin beharrte, auch richtig war. Zumindest in diesem Bereich nahm sie die Führungsrolle auf sich. Eine Führung ist aber auch sehr begehrt im Bereich der Außenpolitik und Sicherheit. Europa braucht strategisches Denken und Handeln, um die Stabilisierung und Demokratisierung seiner östlichen und südlichen Regionen zu unterstützen. Dies betrifft auch den Aufbau von neuen Beziehungen mit der Übersee.
Unter der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel weigerte sich Deutschland bislang, die Führungsrolle in diesem Bereich zu übernehmen. Unter allen bundesdeutschen Kanzlern der letzten Jahre zeichnet sich Merkel aus durch ihr – sozusagen – verhältnismäßig geringstes Interesse für die Politik im Bereich Verteidigung und Sicherheit. Bekannt durch ihren großen Appetit auf den Inhalt von Dossiers zu allen anderen politischen Themen, bevorzugt sie, die militärischen Angelegenheiten den Fachleuten zu überlassen, und sie scheint damit zufrieden zu sein. Es ist möglich, dass fehlendes Interesse für diese Problematik mit ihrer ostdeutschen Erziehung verbunden ist oder mit dem Umstand, dass Frau Merkels Vater Pastor war. Oder aber mit dem wissenschaftlichen Profil ihrer Ausbildung. Wie dem auch sei, seit der Amtsübernahme im Jahr 2005 schreibt Angela Merkel keine besondere Bedeutung den Problemen der Verteidigungspolitik und Sicherheit zu.
Demobilisierung als Sicherheitsstrategie
Ein Thema, das Merkel bislang besonders vermied, ist das Problem der Drohnen – die sowohl bei Kampfeinsätzen als auch zur Überwachung und Aufklärung eingesetzt werden. Dass sie sich weigert, dieses Thema aufzunehmen, wurde diesen Sommer besonders klar, als die oppositionellen Sozialdemokraten das Problem der Drohnen in der Wahlkampagne aufgegriffen hatten. Und zwar konzentrierten sie sich auf die Affäre um „Euro-Hawk”. Etwas früher nämlich wurde bekannt, dass die deutschen Regierungen insgesamt über eine halbe Milliarde Euro ausgegeben hatten für die Entwicklung von unbemannten Luftfahrzeugen, in denen die amerikanische Technologie nicht eingesetzt werden konnte und die keine Zulassung für den Einsatz im europäischen Luftraum erhielten.
Thomas de Maizière, Verteidigungsminister und treuster Assistent von Frau Merkel, erklärte letztendlich den Abbruch des „Euro-Hawk”-Programms, gleichzeitig aber gab er bekannt, dass ein neues Projekt zur Anschaffung von bewaffneten Drohen in Gang gesetzt wird. Die Sozialdemokraten versprachen dagegen ihren Wählern, dass sie die Entwicklung oder Anschaffung von solchen Fluggeräten nicht zulassen. Dies war eine höchst populistische Erklärung. Die Deutschen sind entschieden gegen den Einsatz von Kampfdrohnen. Sie sind empört, wie die Administration von Präsident Obama diese Waffe zum ferngesteuerten Töten von Menschen, die des Terrorismus verdächtig werden, einsetzt. Gleichzeitig aber bemerken sie nicht, dass die Drohnen ein Bestandteil der technologischen Revolution in der Rüstungstechnik weltweit bedeuten.
Verantwortlich für diesen Tatbestand sind sowohl die Regierung als auch die Opposition: die Auseinandersetzungen um „Euro-Hawk” wurden nicht dazu genutzt, eine richtige Debatte über die künftigen Rüstungsbedürfnisse der Bundesrepublik aufzunehmen. Diese Gelegenheit wurde auch nicht genutzt, um den NATO und die EU aufzufordern, internationale Rechtsrahmen für den Einsatz von Drohnen auszuarbeiten. Der Grund dafür ist, dass eine Diskussion zu dem einen oder dem anderen Thema bewirken würde, dass es zu einer Reflexion über zwei in der politischen Debatte dieses Landes besonders abwesende Themen kommen müsste, das heißt die sog. hard power und Strategie. Trotz des Engagements in eine Reihe von internationalen militärischen Missionen bleibt die deutsche Sicherheit abgeschottet in einer strategischen Leere und die Bundeswehr ohne klare Richtungsweisungen.
Dies hat Rückwirkungen auf den Rest von Europa. Ohne eine eigene Strategie im Bereich Sicherheit schaffte es die Bundesrepublik, die EU-Außenministerin Catherine Ashton von der Idee abzubringen, eine neue Strategie für Europa in diesem Bereich auszuarbeiten. Ungeachtet der Tatsache, dass die EU zum ersten und bisher letzten Mal die Arbeit an einer solchen Strategie im Jahre 2003 zu beginnen versuchte! Die im Jahr 2007 aufgenommenen Bemühungen zu deren Aktualisierung sind auch nicht weit gekommen.
Es stimmt, dass eine fehlende Sicherheitsdoktrin es Europa erschwert, in außergewöhnlichen Situationen im Nahen Osten, im süd-östlichen Asien oder – selbstverständlich auch – in den USA entsprechend zu reagieren. Aber die fehlende Sicherheitsdoktrin hemmt auch alle Bemühungen innerhalb des NATO oder der EU, gemeinsame Ressourcen zu schaffen und gemeinsam diese einzusetzen, was dem ständig wachsenden finanziellen Druck standhalten könnte. Solange die europäischen Alliierten sich nicht einig werden, wann der gemeinsame Einsatz der Streitkräfte begründet wäre, ist ein Verzicht auf die zentralen oder nationalen Rüstungsressourcen nicht möglich. Eine solche Einigkeit ist aber angesichts der fehlenden strategischen Debatte schwer zu erreichen. Die Bundesrepublik sollte ihre Führungsrolle mit größerer Entschlossenheit ausüben, um diesen Problemen die Stirn bieten zu können.
Deutsches Dilemma
Dabei ist die Führung, oder das Führen, kein Lieblingsthema der deutschen Politiker. Die Gründe dafür sind nicht nur die schreckliche Geschichte Deutschlands, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die Teilung Europas in zwei ideologische Lager. Die Führung ist mit Verantwortung und Verpflichtungen verbunden, die deutsche Staatsführer nicht unbedingt auf sich nehmen wollen. Wie leicht die Bundesrepublik zum Ziel für die populistischen Bewegungen in anderen EU-Ländern werden kann oder das bei Demonstrationen in Griechenland und auf Zypern gezeigte Bild von Kanzlerin Merkel in Naziuniform waren schockierend. Nicht zum ersten Mal hat Deutschland mit diesem Dilemma zu tun: übernimmt dieses Land die Führungsrolle, wird es wegen Vorherrschaft kritisiert. Weigert es sich, diese Rolle zu übernehmen, wird es der Selbstgefälligkeit und des Egozentrismus beschuldigt. Kann die eventuelle dritte Amtszeit von Kanzlerin Merkel (oder, angenommen, eines anderen Staatsoberhauptes) diese Situation ändern?
Hätte Merkel Angst vor der Führungsrolle, wäre sie nichtaufihrem heutigen Posten. In der ersten Amtszeit (2005-2009) zeichnete sie sich durch ein echtes Gefühl für Sinn und Ziel aus. Sie verbesserte die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu Osteuropa. Sie zeigte auch einen gewissen Idealismus, indem sie in ihrer Außenpolitik das Problem der Menschenrechte als erstrangig einstufte, besonders in Bezug auf Russland und China. Bedingt durch die Notwendigkeit, zum Klimawandel auch Stellung zu nehmen, scheute sie nicht davor, die Amerikaner zum Engagement auch in diesem Bereich zu überzeugen. Ungeachtet aller Hindernisse modernisierte sie ihre konservative Partei – die Christlich-Demokratische Union (CDU). Ein großer Teil ihrer Begeisterung ist aber verdunstet.
Je länger Deutschland dem Problem seiner Führungsrolle ausweicht, besonders in Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik, desto länger bleibt Europa eine schwache Weltmacht, die nicht im Stande ist, seinen Bürgern die Sicherheit zu gewährleisten – geschweige denn, sich um seine eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Weltzu kümmern. Dies ist eins von vielen Problemen, mit denen der künftige Bundeskanzler zu kämpfen hat.
Bei seinem Besuch in Berlin im Juni dieses Jahres sagte Präsident Barack Obama, der Geschichte zu gedenken bedeute nicht, mit der Geschichte die Rechnung beglichen zu haben. „Ich komme heute hierher, Berlin, um zu sagen, dass Selbstgefälligkeit nicht das Wesen großer Nationen ist.“ Die am Anfang ihrer Wahlkampagne stehende Kanzlerin Merkel hätte von ihm keine deutlichere Botschaft erhalten können.
* Judy Dempsey, Chefredakteurin von Strategic Europe, Senior Associate bei Carnegie Europeund Feuilletonistin bei International Herald Tribune.
** Aus dem Englischen von EUROTRAD Wojciech Gilewski.
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Der Präsentismus der Politik von Angela Merkel ist lähmend
Mit Claus Leggewie spricht Jakub Stańczyk über den Zustand des Bewusstseins der deutschen Gesellschaft vor den Bundestagswahlen, über die amtierende Kanzlerin und die europäische Energiepolitik.
Jakub Stańczyk: Das endgültige Ergebnis der Bundestagswahl wird zweifellos von dem Zustand des Bewusstseins der deutschen Gesellschaft abhängen. Wie bewerten Sie diesen Zustand?
Claus Leggewie: Deutschland fühlt sich wie eine Insel der Glücksseligkeit in einem Meer von Krisen. Viele Deutsche bleiben gedanklich in der Gegenwart und versuchen, sich gegen eventuelle Risiken der Zukunft durch die Bestätigung eines vermeintlich bewährten Teams abzusichern. Sie werden am Sonntag die Partei wählen, die ihnen verspricht, diese Illusion der Glückseligkeit aufrechtzuerhalten. Sie schlagen einen ausgetretenen Weg ein, was uns und Europa künftig in noch größere Schwierigkeiten bringen könnte.
Die Situation in Deutschland wird allseits als gut beurteilt. Erst kürzlich war noch in aller Munde, dass die Wirtschaft der Bundesrepublik nach der Krise mit Volldampf losgelegt hat. Der Erfolg wird sowohl dem langfristigen Einfluss der Hartz-Reformen, als auch der stabilen Politik von Kanzlerin Merkel zugeschrieben …
Weder waren die Hartz-Reformen so erfolgreich, wie behauptet wird (weil sie die soziale Ungleichheit verschärft haben), noch kann man diese Reformen Merkel zurechnen. Und derzeit fehlt es an Reformen, die die Zukunft Europas sichern würden. Wirklich neu wäre, wenn Kanzlerin Merkel ein konsequentes Energiewendeprogramm vorlegen würde, das gesamteuropäisch abgesprochen ist und vor allem in Südeuropa Entwicklungsimpulse setzt. Wir belasten die Schultern künftiger Generationen mit gewaltigen Schulden und vor allem auch mit Treibhausgasemissionen, als gäbe es kein Morgen. Der Präsentismus dieser Politik ist lähmend.
Aber wer, wenn nicht Angela Merkel? Gibt es Parteien, die keine Illusionen schaffen, sondern ein Programm und eine Vision für das künftige Deutschlands haben?
Visionen zu haben, ist vielleicht zu viel verlangt. Rot-Grün-Rot würde eventuell die Revision und Erneuerung des Wohlfahrtsstaates betreiben, Schwarz-Grün könnte die Energiewende zur zentralen Achse der Politik machen. Energiepolitik ist heute keine Randbedingung der Entwicklung, eine Umstellung auf erneuerbare Energien erlaubt ein ganz anderes und besseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das stärker auf die Selbstorganisation lokaler Gemeinschaften setzt und einen alternativen und besseren Lebensstil in den Bereichen Mobilität, Ernährung und Raumplanung gestattet. Diese Themen sind zwar in Angela Merkels Rhetorik präsent, aber nicht in ihrer Politik, die durch die Gesetzgebung, Technologieentwicklung und durch ökonomische Anreizen gemacht wird. Das könnte eine schwarz-grüne Koalition am ehesten leisten, aber genau diese Option gefällt den Deutschen laut Umfragen am wenigsten.
Sie haben gesagt, dass die Energiepolitik Südeuropa helfen könnte. Welche Bedeutung hat die deutsche Energiewende für die Zukunft der europäischen Integration?
Die meisten Europäer warten darauf, dass Deutschland die Energiewende vermasselt, und dann alle weiter machen wie bisher. Dafür ist die Bundesregierung mit verantwortlich, weil sie die Energiewende nicht von Beginn an gesamteuropäisch koordiniert hat. Deutschland ist nicht das „Modell“, dem alle folgen sollen, sondern die Modifizierung der europäischen Industrie-, Energie- und Infrastrukturpolitik erfordert weit mehr supranationale Kooperation als bisher. Ein europäisches Stromnetz ließe eine enorme Autonomie der jeweiligen nationalen Strategien zu, aber dazu muss es erst einmal entstehen und zeigen, dass es funktioniert. Leider zerfällt Europa, nicht zuletzt wegen der konservativen, aus meiner Sicht verstockt-nationalistischen Obstruktion aus London und Warschau.
Erstens kann der Regierung von Donald Tusk wohl kaum Nationalismus vorgeworfen werden. Zweitens pflegt der polnische Ministerpräsident freundliche Beziehungen zur deutschen Regierung. Es ist deswegen schwer, Ihnen bezüglich Warschau zustimmen.
Am Willen zur Zusammenarbeit und der Ausrichtung auf Berlin habe ich bei Donald Tusk keinen Zweifel, wohl aber bei der polnischen Rechten, die Tusk stürzen möchte, und vor allem im Hinblick auf die Energie-, Klima- und Umweltpolitik, wo es einen anti-grünen Konsens gibt. Was tut Polens Regierung konkret für den Erfolg der COP in diesem Herbst? Inwieweit ist Polen bereit, seine Kohle- und Atompolitik auf den Prüfstand zu stellen? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin ein Fan der deutsch-polnischen Kooperation und ein Kritiker der Rechten (und der Kommunisten), wo immer sie gegen Europa mobilisieren. Aber in der Umwelt- und Energiepolitik blockiert Polen leider – auch entgegen seinen eigenen Interessen.
Wir haben vieles über die Energiepolitik gesagt. Welche Fragen sind Ihrer Meinung nach im laufenden Wahlkampf noch wichtig? In ihrem Text zur heutigen Ausgabe von Kultura Liberalna meint Judy Dempsey, dass der diesjährige Wahlkampf so langweilig sei, weil die meisten besprochenen Themen demographische und mit der Integration von Migranten verbundene Fragen betreffen. Ihrer Meinung nach wäre es interessanter gewesen, die Fragen der Sicherheitspolitik und des Militärwesens in Betracht zu ziehen und beispielsweise über die europäischen Drohnen zu diskutieren.
Europa beginnt wieder, sich abzuschotten, statt proaktiv Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aufzunehmen und eine neue Willkommenskultur zu schaffen. Aber eine Wahl ist eine Wahl, und da wird die Machtfrage gestellt. Die Opposition stellt sie nicht, sie beharrt auf einer rot-grünen Koalition, obwohl diese rechnerisch keine Chance hat, statt die Alternativen zur konservativ-liberalen Stagnation klar zu machen: Entweder die Wiederherstellung des deutschen Sozialstaates in der Koalition unter Einschluss der Postkommunisten, oder – was mir persönlich lieber wäre – eine „schwarz-grüne Koalition“, die auf erneuerbare Energien setzt und die ökologischen Fragen ins Zentrum rückt. Das sind keine Nischenthemen mehr, sondern Zentralachsen einer Wiederherstellung des europäischen Einflusses in der ganzen Welt. Einwanderungspolitik funktioniert umso besser, je mehr nachhaltige und zukunftsfeste Arbeitsplätze ein Kontinent anbieten kann. Die dauerhafte Beruhigung der Konfliktzone an der südlichen Peripherie Europas ist auch nur durch eine gemeinsame Entwicklung zu gewährleisten. Der Vorschlag Polens und Österreichs, die C-Waffen-Lager in Syrien unter europäische Kontrolle zu stellen, war da ein guter Anstoß für eine gesamteuropäische Friedens- und Entwicklungspolitik.
* Claus Leggewie, deutscher Politikwissenschaftler, Direktor des Kulturwissenschaftliches Instituts Essen.
** Jakub Stańczyk, Redaktionsmitglied von Kultura Liberalna.
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Wie weiter nach der Merkel-Ära?
Der beinahe sichere Erfolg von Angela Merkel bei den Bundestagswahlen am 22. September wird die außergewöhnliche Symbiose bestätigen, die die seit acht Jahren regierende Kanzlerin mit der deutschen Gesellschaft eingegangen ist. Vermutlich hatte seit Willy Brandt kein deutscher Kanzler so viel Feingefühl für gesellschaftliche Stimmungen und keiner hat so gut den Zeitgeist seiner politischen Epoche symbolisiert.
Es ist in Deutschland üblich geworden, die Regierungszeit einzelner Kanzler als Ära zu bezeichnen, unabhängig von dem Rang ihrer tatsächlichen Errungenschaften. Die Soziologen sind sich heute darüber einig, dass es in Deutschland keine Wechselstimmung gibt. Das bedeutet, die Bürger wollen, dass die „Merkel-Ära“ weitergeht. Zweifelsohne gibt es viele Gründe, für die dieser Wunsch verständlich ist. Aber vieles deutet auch darauf hin, dass das Faustsche Begehren „oh, Augenblick verweile doch, du bist so schön“ auf der im hohen Maße falschen Überzeugung beruht, die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes sei die beste Garantie für eine rosige Zukunft. Schließlich kann sich die „Merkel-Ära“, die vor allem in den vergangenen vier Jahren ein Synonym für Gelassenheit und prosperity an Rhein und Spree war, lediglich als einen Übergangszeitraum zwischen dem Jahrzehnt der Turbulenzen und des Verzichtes nach der Wiedervereinigung und der Deutschland erst bevorstehenden Notwendigkeit, die Weichen in mehreren bedeutsamen Bereichen der Politik umzulegen, entpuppen. Als einen Zeitraum, der eher viele offene Fragen und unerledigte Angelegenheiten zu bieten hat, als dass er eine Zäsur setzt, die den Weg zu einer neuen Etappe in der Geschichte der Bundesrepublik bereiten würde.
Die Teflon-Kanzlerin
Merkel gilt allgemein als postpolitische Teflon-Politikerin, die keine entschiedenen Ansichten und klaren Visionen hat. Hier ist kein Raum für Überlegungen darüber, ob diese Bewertung gerecht ist. Es ist jedoch kein Zufall, dass jemand mit genau diesem Profil alle Beliebtheitsrekorde bricht und sich gesellschaftlichen Vertrauens erfreut. Man könnte im Grunde argumentieren, dass dies der europäische Standard ist und mit ähnlichen Worten viele aktuelle Staatsmänner und -frauen beschreiben, auch in Polen. Aber in Deutschland haben die Postpolitik und Postideologie des vergangenen Jahrzehnts einen doppelten Boden, der mit der Besonderheit des Landes zusammenhängt, das sich nach dem Jahr 1990 unter zahlreichen Gesichtspunkten neu definieren musste. Viele gesellschaftliche und politische Konflikte, die beispielsweise die Frage der nationalen Identität betreffen, die Rolle Deutschlands in der internationalen Politik oder das Verhältnis zwischen dem Osten und dem Westen des Landes, entstammen dem Gefrierschrank des Kalten Krieges. Andere, wie die Frage der Atomenergie, der Ökologie, des Umgangs mit Homosexualität, mit Multikulturalität, haben sich mit dem späten Generationswechsel in der Politik angehäuft – durch den Abgang der „langen Generation“ Helmut Kohls und die Übernahme des Ruders durch die machthungrige Generation der 68er mit der Regierungsbildung durch Gerhard Schröder 1998.
Angela Merkel ist 2005 an die Macht gekommen, als die Mehrheit dieser Konflikte gelöst war. Schröders Reformen (Änderung der Prinzipien für die Staatsbürgerschaft, Rückzug aus der Atomenergie, Gleichstellung von homosexuellen Ehen) waren eine politische Genugtuung für die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft in den vorangegangenen Jahrzehnten. Die Reformen des Arbeitsmarktes und des Sozialsystems (Agenda 2010) waren eine notwendige, wenn auch schmerzhafte, Anpassung des deutschen Wirtschaftsmodells an die neue Realität der globalisierten Ökonomie. Die hitzigen Debatten über die Teilnahme deutscher Soldaten an den Einsätzen im Kosovo, im Irak und in Afghanistan brachen so manches Tabu und bereiteten den Weg zu einem neuen, aber labilen Konsens in der Frage des internationalen Engagements Berlins. Fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands war die Teilung in Ost und West innerhalb Deutschlands in der deutschen politischen Wirklichkeit noch immer ein wichtiges Thema, aber nicht mehr vordergründig. So gesehen übernahm Merkel die Regierung über eine Gesellschaft, die so miteinander im Einklang war, wie wohl nie zuvor, und die nach der Zeit der heftigen Umbrüche Stabilisierung erwartete. Zweifelsohne war es der Verdienst der Bundeskanzlerin (und das Geheimnis ihres Erfolgs), dass sie perfekt auf diesen Bedarf reagieren konnte. Und auch, dass sie trotz parteiinterner Widerstände die konservative CDU zur Modernisierung geführt hat, und damit aus ihr einen Pfeiler des neuen gesellschaftlichen Konsensus gemacht hat (die Änderungen der Einstellung in Fragen zur Rolle der Frau, der Energiepolitik und der Familienpolitik).
Merkel war in den vergangenen Jahren nicht etwa Autorin bahnbrechender Reformen, abgesehen von der Aufhebung der Wehrdienstpflicht sowie der Kehrtwende in der Energiepolitik (die gegen vorherige Entscheidungen und unter dem Druck gesellschaftlicher Stimmungen vollzogen wurde) [mehr über die Energiewende auf: https://kulturaliberalna.pl/2013/05/28/kemfert-jakobik-wisniewski-patocka-freiheit-klima-elektrizitat/]. Noch in der großen Koalition mit der SPD (2005-2009) hatte sie geschickt – mithilfe der Konjunkturpakete und der Einführung von Kurzarbeit – einem langwierigen Kollaps in der deutschen Gesellschaft in Krisenzeiten vorgebeugt. Deutschland ist unter ihrer Regierung und dadurch, dass es günstige Konstellationen nutzt (geringe Verzinsung von Anleihen und Wettbewerbsvorteile) in der europäischen Krise regelrecht aufgeblüht. In der Europapolitik hat Merkel auf den gesellschaftlichen Bedarf reagiert, indem sie in der EU erzwungen hat, sich an die deutschen Prinzipien (Sparsamkeit, Reformen) zu halten, bei gleichzeitiger schrittweiser und für die Bürger kaum wahrnehmbarer Abkehr von ihnen – im Interesse der EU und Deutschlands. Diese „merkiavellistische“ (Ulrich Beck) Politik macht sich bezahlt, denn dank der Haltung ihrer Regierung in der Krise bricht Merkel in Deutschland Beliebtheitsrekorde, und das Vertrauen in den Euro und in die EU ist in den vergangenen Monaten wieder gewachsen.
Die Zukunft ist nicht so rosig
Betrachtet man die gesellschaftlichen Erwartungen und den Zeitgeist, hat sich Merkel als ideale Politikerin erwiesen. Doch ihr lavierender politischer Stil, der Konflikte und weitreichende Pläne vermeidet, kann sich als belastende Hypothek für die Zukunft entpuppen. Im Grunde genommen nämlich nährt sich die Merkel-Ära der Gelassenheit und Selbstzufriedenheit, an der sich die Deutschen gern laben, aus zahlreichen Täuschungen. Deutschland hört gerne Lob auf sein Wirtschaftsmodell, und vergisst dabei die Defizite, die es in der nahen Zukunft viel kosten können: schlechte Bildung, zu geringe Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und ein Defizit an qualifizierten Arbeitskräften.
Der heutige gesellschaftliche Frieden beruht auf bisher guten wirtschaftlichen Ergebnissen, deren Fortsetzung aus genannten Gründen gar nicht sicher ist. Und an gesellschaftlichen Spannungen fehlt es nicht: materielle Ungleichheit und blockierte Aufstiegschancen für einen Großteil der Gesellschaft sind wohl die deutlichsten Merkmale des einstigen rhein’schen Kapitalismusmodells. Merkel hat die Deutschen beruhigt, indem sie sie davon überzeugt hat, dass eine Rückkehr der D-Mark keine gute Lösung wäre, aber sie hat sie nicht auf die Kosten für die Rettung der gemeinsamen Währung vorbereitet, die in Kürze das deutsche Konto belasten werden (der neue Rettungsschirm für Griechenland, und vielleicht sogar die Reduktion der Schulden der Südstaaten Europas). In Merkels Zeiten ist die Debatte über internationale Einsätze Deutschlands zurückgegangen – dabei geht es nicht nur um die Abneigung gegen bewaffnete Auslandseinsätze, sondern vor allem um fehlende strategische Überlegungen zur Rolle Deutschlands in der Welt in einer Situation, in der gerade im vergangenen Jahrzehnt die Erwartungen an Berlin, besonders in Europa, dramatisch gestiegen sind.
Entgegen allem Anschein besteht Deutschland eine Zeit der nicht leichten Entscheidungen bevor – unabhängig davon, wer ab dem 22. September regieren wird. Die Oppositionsparteien, die SPD und die Grünen, haben es gewagt, in diesem Wahlkampf ein Tabu zu brechen und im Namen öffentlicher Investitionen und Nivellierung von Ungleichheit, Steueranhebungen für die Reichsten gefordert. Es gibt noch mehr Themen, über die man sich streiten könnte. Doch die Parteien der gegenwärtigen Koalitionen (CDU/CSU und FDP) bevorzugen eine Politik der Beruhigung („Deutschland ist stark. Und soll es bleiben.“), die Opposition aber hat nicht genügend Kraft, die Bürger davon zu überzeugen, dass eine Alternative zur gegenwärtigen Politik nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist. Wenn Angela Merkel ausreichend Entschlossenheit und Glück hat, geht die Rettung des Euro in die Geschichte als Markenzeichen ihrer Ära ein. Das wäre nicht wenig. Aber im Interesse ganz Europas liegt ein Deutschland, das nach dem beruhigenden Jahrzehnt des „zweiten Wirtschaftswunders“ neue Kraft schöpft und sich den Herausforderungen stellt, die über seine Kondition in 10 bis 15 Jahren entscheiden.
* Piotr Buras – Direktor des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR), www.ecfr.pl. Das Warschauer Büro des ECFR ist inhaltlicher Partner von Kultura Liberalna.
** Aus dem polnischen von Antje Ritter-Jasińska.
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Die Krisenpädagogik
Die heutigen widersprüchlichen Erwartungen an Deutschland und die extremen Bewertungen Deutschlands bestätigen seinen besonderen Status in Europa. Die Bundeskanzlerin beteuert ihre pro-europäischen Instinkte, aber auch die entschiedene Verteidigung deutscher Interessen. Das wichtigste Ergebnis der deutschen Wahlen wird sein, dass der Grund zur Aufschiebung einer Entscheidung über die Umgestaltung der Eurozone wegfällt und die rege Diskussion über weitere Hilfspakete wieder aufgenommen werden kann.
Aus der Sicht Brüssels haben die Septemberwahlen im größten Land der Europäischen Union eine Art mythische Bedeutung angenommen. Alle legen ihre Hoffnungen in diese Wahlen – die einen hoffen auf die Freigabe der Reformen und die Beschleunigung der Integration, die anderen auf den Verzicht auf allzu ehrgeizige Projekte. Die einen: auf die Abkehr von der Politik des übermäßigen Sparens zugunsten des Wachstums, die anderen: auf eine tiefergehende Konsolidierung. Es gibt keine Chance, dass nach den Wahlen alle in Europa glücklich sein könnten. Das hat zur Folge, dass der Wahlkampf in der Bundesrepublik Deutschland uns mehr über uns selbst und unsere Zwiespalte in der EU sagt, als über Deutschland. Dort herrscht relative Entspanntheit und EU-Themen sind erst in der letzten Wahlkampfphase zur Sprache gekommen.
Eine Debatte unter dem Diktat der Nervosität
Wir sind im deutschen Wahljahr der Versuchung erlegen, alles, was Berlin tut oder nicht tut mit „Wahltaktik“ zu erklären. Viel Zeit wurde damit verbracht, doppelte Bedeutungen und wahre Intentionen aufzudecken, und mit Spekulationen darüber, was nach dem 22. September geschehen wird. Deutschland hat dies dementiert, aber keiner hat es geglaubt. Die erste positive Auswirkung der Wahlen wird also die Beendigung dieses fruchtlosen Streits sein, so dass man sich wieder dem Kern der europäischen Debatte widmen kann.
Diese Debatte findet unter Krisenbedingungen und in Begleitung allgemein üblicher Klagen über das „deutsche Diktat“ statt. Viel enttäuschter aber sind wir, wenn Deutschland sich aus der „Führungsrolle“ in der EU zurückzieht: Wenn es schon die meisten Instrumente hat, sollte es diese doch im Kampf gegen die Krise stärker einsetzen. Derartig gegensätzliche Erwartungen und die extremen Bewertungen bestätigen im Grunde den besonderen Status, den Deutschland heute in Europa hat. Staaten, die mit solchen Reaktionen konfrontiert sind, erfahren dadurch, dass sie als Großmacht behandelt werden – ob sie es wollen oder nicht. Die Bundeskanzlerin beteuert ihre pro-europäischen Instinkte, aber auch die entschlossene Verteidigung deutscher Interessen. Dieser zweite Aspekt wird sicherlich stärker betont als das ihr christdemokratischer Vorgänger Helmuth Kohl getan hatte, weil sich die Erwartungen der Wähler geändert haben. Im Zuge der Krise hat sich auch die Atmosphäre der Gespräche über die Zusammenarbeit in der EU geändert. Es ist gelungen, feste Instrumente zur Vorbeugung von Problemen in der Zukunft zu schaffen, wir müssen uns nicht mehr nur auf die Brandlöschung beschränken: nie hatten wir so viel „Europa“. Dennoch sind wir noch immer nicht guter Dinge. Zwar ist das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals und gegenseitiger Abhängigkeit gewachsen, also im Grunde genommen das Gefühl für Nähe. Nur ist das die kühle Nähe von Europäern, die mehr Groll gegeneinander hegen als Vertrauen und die die Krise unterschiedlich verstehen. „Mehr Europa“ bedeutet für die einen mehr Geld im Rahmen von Hilfspaketen, für die anderen: mehr Kontrolle und finanzielle Disziplin. Es wächst die Versuchung, in kleineren Kreisen Lösungen zu finden, ohne sich auf die gesamte EU zu verlassen. Es wird geteilt in Nehmer und Geber, Norden und Süden, in die Eurozone und die Nicht-Eurozone. Die nationalen Interessen werden mit – sagen wir einmal – mehr Direktheit ausgedrückt. Das mag verständlich sein, aber ohne tiefere Verwurzelung in dem Gemeinschaftsgefühl können sich die Teilungen in der EU leicht zuspitzen und sogar toxisch werden. Die Diskussion über ein Rezept für die Krise wird zu einer Jagd auf das Recht zur ausschließlichen Interpretation der Ursachen und zur Denunzierung der Schuldigen. In der Sprache der Politiker, die von Natur aus um eine differenzierte Wählerschaft werben müssen, können diese Interpretationen zu vereinfachten Motti führen. Und weil es den Menschen schwer fällt, sich in der objektiv komplexen Materie zurechtzufinden, und die EU aufgehört hat, ein automatisch akzeptierter positiver Bezugspunkt zu sein, kann das zu einer Art „geistiger Heimatlosigkeit“ führen. Es kommt zu Situationen wie der, dass beispielsweise die Boulevardpresse in einem Land im Norden den Finanzminister eines Landes im Süden mit der Titelzeile begrüßt: „Willkommen in einem Land, in dem die Menschen jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, um hart zu arbeiten und zwar bis zu ihrem 67. Lebensjahr“. Als Reaktion kommen Anschuldigungen, die sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehen. Das ganze schaukelt sich hoch und es ist kein Ende in Sicht.
Das Wahlrätsel
Was erfahren wir bei diesen Wahlen über die Stimmungen in der deutschen Gesellschaft? Es scheint, dass diese Gesellschaft den wahren Ausdauertest erst wesentlich später durchlaufen wird, wenn Berlin gezwungen sein wird, eine eventuelle Restrukturierung der Schulden der Länder vorzunehmen, die unter die Hilfsprogramme fallen, das bedeutet: reale Ausgaben, und nicht nur Kredite. Jetzt hören die Wähler, dass Deutschland von der Krise profitiert hat, denn als sicherer Zufluchtsort für die Investoren zahlt es für seine Schulden außergewöhnlich niedrige Zinsen. Zwar werden populistische Stimmungen gemeldet, aber selbst wenn diese stärker sind als das mit bloßem Auge sichtbar ist, spielen die extremistischen Parteien bei diesen Wahlen keine wesentliche Rolle.
Aus der Sicht Brüssels sind die Folgen der Evolution der „Krisenpädagogik“ für Deutschland – von einer liberalen zu einer sozialen – wesentlich interessanter. Gemäß der ersten, die Berlin näher ist, ist allein der Druck des Marktes in der Lage, Politiker zu Reformen zu zwingen, und ohne strukturelle Reformen vertrauen ihnen die Märkte nicht. Seit einigen Monaten jedoch verstärkt sich in Europa die Kritik an der Kürzungspolitik und an der Reduktion der Schulden als ein Hauptkriterium. Mehr Verständnis hat man für Maßnahmen, die das Wachstum anregen. Obwohl das eher ein kommunikativer als realer Streit ist (jede Politik muss beide Elemente integrieren), hat er die Diskussion über ein europäisches Sozialmodell belebt, das immer schon populistische Bewegungen eingedämmt hat, und auch eine wichtige Quelle der demokratischen Legitimität ist. Die europäischen Staatsoberhäupter unterliegen heute den EU-Sanktionen der Sparpolitik und fühlen sich plötzlich ihrer eigenen Instrumente für diese Eindämmung und für die Stabilisierung der Demokratie entledigt. Bei dieser Gelegenheit werfen sie Deutschland vor, das Sozialmodell in Europa zu unterhöhlen, indem es ein niedriges Lohnniveau aufrecht erhält und Europa mit Billigwaren überschwemmt. Berlin aber wundert sich, weil es seine Reformen und das kooperative Modell des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als historischen Erfolg betrachtet.
Trotz der spektakulären Streitigkeiten aufgrund unterschiedlicher Schwerpunktverteilung in der Wirtschaftspolitik verbindet die politischen Hauptkräfte in Deutschland mehr als sie trennt. Unabhängig davon, ob der Koalitionspartner der Christdemokraten die Liberalen oder die Sozialdemokraten sein werden – das sind die beiden wahrscheinlichsten Varianten – wird Bundeskanzlerin Merkel nicht stark von ihrem bisherigen Konsolidierungskurs abweichen. Das wichtigste Ergebnis der deutschen Wahlen wird sein, dass der Grund zur Aufschiebung einer Entscheidung über die Umgestaltung der Eurozone wegfällt und die rege Diskussion über weitere Hilfspakete wieder aufgenommen werden kann.
* Marek Prawda, ständiger Vertreter Polens in der Europäischen Union im Europarat.
** Aus dem polnischen von Antje Ritter-Jasińska.
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Über den Zusammenhang zwischen Finanz- und Erinnerungspolitik
Als die Finanzkrise aus den USA auf Europa überschwappte, zeigte sich, dass Berlin am besten mit ihr zurechtkommt und nach und nach in der EU die Initiative übernimmt. Die wachsende Dominanz Deutschlands weckte jedoch Assoziationen mit der Vergangenheit. Nichts überzeugt mehr davon, dass Wirtschaftspolitik von einer wirkungsvolleren Erinnerungspolitik begleitet sein muss, als die gegenwärtige Krise.
Als vor der Abreise zum G-20-Gipfel nach Petersburg die Staatsoberhäupter der Welt die letzten Details vorbereiteten, schlugen Joachim Gauck und François Hollande für einen Moment die entgegengesetzte Richtung ein. Die Präsidenten trafen sich in Oradour-sur-Glane, einer Ortschaft, die außerhalb von Frankreich nicht weiter bekannt ist. Im Jahr 1944 hatte die deutsche Armee mit Methoden, die eher an der Ostfront verbreitet waren, fast alle Bewohner ermordet. Nach dem Krieg hatte General Charles De Gaulle entschieden, zum Gedenken an die Opfer des Massakers (642 Menschen) das zerstörte Oradour-sur-Glane nicht wieder aufzubauen. Bis heute stehen auf den Straßen die Überreste verbrannter Autos aus den 30er Jahren; aus der Vogelperspektive kann man in das Innere der ausgebrannten Häuser schauen.
Gegen Probleme hilft Deutschland
Als die Finanzkrise aus den USA auf Europa überschwappte und sich herausstellte, dass Berlin am besten mit ihr zurechtkommt, mehr noch, dass es aus diesem Grund nach und nach die Initiative in der EU übernimmt, machten sich in fast ganz Europa verschiedenste antideutsche Ressentiments stärker bemerkbar. Wie zum Trotze des allgemein verbreiteten Gejammers über das zurückgehende Niveau des Schulwissens bezüglich Geschichte und des Übermaßes an Gesten der politischen Versöhnung, zwingt uns die ökonomische Krise dazu, dieses Problem aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Erstens ist Deutschland zu einem Zerrspiegel für die Misserfolge der Reformen in vielen EU-Ländern geworden. Fast in der gesamten EU erinnern sich die Ökonomen an die Reformen der Regierung Schröder und zerlegen bis heute das Hartz-Konzept und seine Umsetzung in Einzelteile. Die Flexibilisierung der Anstellungsformen in Verbindung mit Steuersenkungen für die Reichsten – in den Kommentaren zum Thema Deutschland war ein neuer Ton der Faszination für das „deutsche Wirtschaftswunder“ zu vernehmen. Worauf aber sind die Ergebnisse der Experten zurückzuführen? Charakteristisch scheint hier die Radiosendung von BBC Analysis zu sein, in der nach allseitiger Analyse der deutschen Arbeitskultur festgestellt wurde, dass sich diese auf Großbritannien nicht direkt anwenden lässt. Zum Trost wurde hinzugefügt, die Situation auf den Inseln sei gar nicht so schlecht. Oxford und Cambridge stehen in den Rankings weiterhin vor den deutschen Hochschulen. Soweit die lehrreiche Schlussfolgerung.
Der Populismus und der Geist der Vergangenheit
Zweitens hat die wachsende Dominanz Deutschlands Assoziationen mit der Vergangenheit geweckt. Manchmal möchte man meinen, dass alle Versöhnungsgesten zwischen den Völkern Europas für einen Teil der EU-Bevölkerung an Bedeutung verlieren. Aus verständlichen Gründen wird in ganz Europa die aktuelle Krise mit der Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre und der damals herrschenden Atmosphäre verglichen. Dennoch hat mit der Krise der Eurozone und den finanziellen Schwierigkeiten einzelner Staaten eine Welle antideutscher Ressentiments von sich hören gemacht. Das Überangebot an Karikaturen im Internet und an Memen kann man ignorieren, da sie im Grunde keine größere Bedeutung haben. Auch die fremdenfeindlichen Sprüche während der Straßenproteste im Süden Europas könnte man als bedauernswerte Episoden in Stile des unrühmlichen an Martin Schulz gerichteten Auftrittes von Silvio Berlusconi im Europaparlament verbuchen. Anders jedoch stellen sich die Dinge dar, wenn sich heute Politiker der Hauptströmung der politischen Szene in ähnlichen Erwägungen versteigen, die zu Elemente der Debatten über europäische Angelegenheiten werden. Beispielsweise hat der prominente linke Politiker und Minister der amtierenden französischen Regierung Arnaud Montebourg offiziell die Politik Angela Merkels mit der Politik Bismarcks verglichen, der eine dominierende Position in Europa anstrebte (Montebourgs Statement vom 1. Dezember 2011). In Osteuropa lassen sich in den vergangenen Monaten unschwer ähnliche Beispiele finden. Während der letzten Präsidentschaftswahlen in Tschechien hat man sich gefragt, ob Karel Schwarzenberg nicht allzu deutsch sei, um sein Land repräsentieren zu können. Es ist also nicht verwunderlich, dass kürzlich The Economist auf seinem Cover den deutschen Adler platziert hat, wie er schamvoll seinen Schnabel mit dem Flügel verdeckt. Der Titel des Sonderberichts „Der unwillige Hegemon“ ist im Prinzip selbstredend.
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All das geschieht in einem Moment, da die deutsche Politik von Personen repräsentiert wird, die die Erfahrung gemacht haben, im Kommunismus zu leben. Es ist paradox, dass das Odium auf Personen fällt, die diese Geschichte am eigenen Leibe erfahren haben. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat fast 35 Jahre lang in der DDR gelebt; ihre Biografen schreiben, dass für sie das Jahr 1968 mit dem Prager Frühling verbunden ist, und nicht mit den Barrikaden in Paris. Joachim Gauck hingegen ist zum Symbol des anständigen Abschlusses der Abrechnung mit dem Kommunismus geworden. Ihre Erfahrungen sind den Erfahrungen derjenigen näher, die sich an die Staaten der Volksdemokratie mit ihrer fehlenden Meinungsfreiheit, an die Geheimdienste und an die Verwaltung des Mangels erinnern. Erst kürzlich wies Timothy Garton Ash darauf hin, dass an diesem Ort noch immer die Quellen des großen Enthusiasmus für das Projekt Europa sprudeln – eines Enthusiasmus, nach dem man in Westeuropa regelrecht suchen muss (ein lehrreiches Beispiel ist Großbritannien).
Es ist also kein Zufall, dass Menschen wie Gauck die Bedeutung der Vergangenheit für die heutige Politik zu schätzen wissen und zu Gesten wie der in Oradour-sur-Glane fähig sind. Nichts überzeugt mehr davon, dass Wirtschaftspolitik von einer wirkungsvolleren Erinnerungspolitik begleitet sein muss, als die gegenwärtige Krise. Mit der historischen Ignoranz kommender Generationen der Europäer braucht man nicht zu rechnen.
* Jarosław Kuisz, Chefredakteur des Magazins „Kultura Liberalna“.
** Aus dem polnischen von Antje Ritter-Jasińska.
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Wortgefechte vor den Wahlen
Inwieweit sagt uns der diesjährige Wahlkampf etwas über die politischen Klasse und über die Gesellschaft in unserem Nachbarland? Die Zielgerade des Wahlkampfes leitete das Fernsehduell zwischen der amtierenden Kanzlerin Angela Merkel und ihrem sozialdemokratischen Gegenkandidaten Peer Steinbrück ein. Das Duell, das an einem Sonntag zur Primetime auf vier deutschen Fernsehsendern live übertragen wurde, sollte eine Chance sein für die oppositionelle Sozialdemokratische Partei Deutschland und sich in den Prognosen niederschlagen. Mit der Art der Moderation und der Auswahl der moderierenden Journalisten sollte an das lebendige und aggressive amerikanische Vorbild angeknüpft werden. Doch die auftretenden Politiker waren dagegen immun und so war es „wie immer“: ernsthaft und kompetent, ohne Charisma und ohne Schwung. Streitfragen wie der NSA-Affäre oder der Intervention in Syrien wurde nur wenig Zeit gewidmet.
Vielleicht ist deshalb zum unbestrittenen Sieger des Sonntagabends die Halskette der Bundeskanzlerin in den deutschen Nationalfarben geworden, die von den Kameras 90 Minuten lang angemessen präsentiert wurde. Sogleich entstand für die Kette ein eigener Twitter-Account, und die Zahl der Follower überschritt schnell die Zehntausend. Man zog in Erwägung, ob die Kanzlerin nicht heimlich die belgische Option repräsentiere, schließlich seien das die gleichen Nationalfarben.
Die Fernsehdebatten in Deutschland haben keine lange Tradition. Weit entfernt sind sie von den großen amerikanischen Medienereignissen, wie beispielsweise dem berühmten Streit der Giganten im Jahr 1960: Richard Nixon gegen den Senator John F. Kennedy. Das Fernsehduell Merkel-Steinbrück ist das vierte in der Geschichte der deutschen Demokratie. Im Jahr 2002 „forderte“ der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber zum ersten Mal den amtierenden Kanzler Gerhard Schröder zu einem Duell vor der Kamera heraus. In den darauffolgenden Wahlkampfphasen erhitzten die Debatten Schröder-Merkel und Merkel–Steinmeier die Wählergemüter. Man kann die Kanzlerin also als eine Veteranin dieser Medienform bezeichnen.
In der öffentlichen Meinung hat das diesjährige Fernsehduell keiner Seite das eindeutige Übergewicht verschafft, die Atmosphäre war eher lauwarm. Wenige Tage nach der Debatte bestätigte das PolitBarometer im ZDF, dass dieses Ereignis die Vorlieben der Wähler nicht beeinflusst hat. In den Prognosen ist die CDU bei 41 Prozent und die SPD bei 26 Prozent der Wählerstimmen geblieben.
Die Politik feiertags und im Alltag
Die Kommentatoren der Debatte sind sich einig: vielleicht hat sie keiner der beiden Seiten etwas gebracht, aber sie war zweifelsohne ein Dienst an der Demokratie und der Bürgergesellschaft, denn fast 18 Millionen Zuschauer sahen sich die Übertragung an, hinzu kommt die ungeheure Aktivität der Internetuser. Die deutschen Medien, die öffentlichen Institutionen und die NGOs nutzen die letzten Wochen vor den Wahlen zur Mobilisierung der unentschlossenen und jungen Erstwähler. Erst kürzlich hatten Studien gezeigt, dass es dazu kommen könnte, dass fast ein Drittel der wahlberechtigten Bürger Deutschlands von ihrem Wahlrecht am 22. September keinen Gebrauch macht. In den Privatsendern SAT 1 und PRO7 gab es eine Kampagne unter dem Motto: „Geh wählen!“. Das öffentliche Fernsehen zeigt eine Reihe publizistischer Sendungen und Quiz zum Thema Demokratie, die mit ihrer attraktiven und intelligenten Form junge Zuschauer ansprechen. In diesem Jahr ist der Wahlkampf auf Billboards zurückgegangen – möglicherweise haben die Spin-Doctors die Überdrüssigkeit der Gesellschaft zur Kenntnis genommen, die seit der Krise in der Eurozone von allen Seiten mit widersprüchlichen und aggressiven Kommunikaten überschüttet wird. Daher rührt vielleicht – entgegen aller Erwartung – das nur marginale Interesse für die Alternative für Deutschland. In diesem Wahlkampf wird das Thema „Euro“ offensichtlich nicht zu radikalen Wahlentscheidungen führen.
Im Alltag bleibt der Bundestag die Plattform der politischen Streitigkeiten. Dies hat die heftige Debatte – oder eher die wahre Schlacht – am 3. September während der letzten Bundestagssitzung vor den Wahlen bestätigt. Bundeskanzlerin Merkel musste sich dem Vorwurf stellen, das Land unter seinen Möglichkeiten zu regieren. Das war der Tag der Abrechnung der Opposition mit der Regierung und des intensiven Streits, der die eigene Wählerschaft mobilisieren sollte. Bis zu den Wahlen kann die Hitze der Gefechte noch stärker werden.
Der Raum für gefahrlosen Streit
Neben den typischen Institutionen der Politik – den traditionellen und den modernen – bildet einen wichtigen Raum für den Meinungsaustausch und den Streit in Deutschland auch der Kulturbereich. Da ließen sich allein schon die documenta in Kassel und die Berliner Biennale nennen. Letztere hat – im Jahr 2012 von Artur Żmijewski kuratiert – im deutschen Publikum einen Heißhunger auf alles, was kontrovers, politisch und engagiert ist, ausgelöst, aber mit dem gleichzeitigen Bedürfnis, das jeweilige Thema zu vertiefen und nicht etwa an der Oberfläche zu bleiben und damit gleichzeitig banal zu werden. Die Berlinale ist berühmt für ihre Schwäche für den engagierten Film. Hier haben kleinere Produktionen die größten Chancen wahrgenommen und gewürdigt zu werden. Wenn nicht von der Jury, dann von dem anspruchsvollen Publikum. Die Kultur in Deutschland hat keinen elitären Charakter, sie hat sich auch nicht kommerzialisieren lassen wie in vielen anderen EU-Ländern. Die Kulturinstitutionen arbeiten nicht nur in großen Stadtzentren, sondern auch in kleinen Städten.
Natürlich wäre ein alleiniger Umgang mit Kunst und Literatur, die sich „Engagement auf die Fahne schreibt“ (zitiert nach Jacek Dehnel), kaum erträglich, aber sie schafft auf natürliche Weise Raum für die Vielfalt der Ansichten, für ihre Artikulierung und ihre Rationalisierung. Es gibt also durchaus Verhaltensformen und Instrumente für die offene und sichere Interaktion mit den Menschen.
Kein geringerer als Josef Beuys hatte im Jahr 1980 die Wahlplakate für die Grünen entworfen. Im diesjährigen Wahlkampf erweisen sich die ästhetischen Standards als „etwas“ weniger anspruchsvoll. Sowohl die NPD als auch die FDP haben für ihre Werbespots das gleiche Motiv im Internet gekauft, das im Übrigen zuvor erfolgreich für eine finnische Joghurtkampagne eingesetzt worden war …
Der Wert der deutschen Institutionen besteht nicht nur darin, dass sie existieren, sondern auch darin, dass sie flexibel sind und die Fähigkeit zur Selbstverifizierung haben. Könnte eine Gesellschaft, der der Staat solche Möglichkeiten bietet, diesen stürzen wollen? Ich glaube, nein. Obwohl das nicht bedeutet, dass sie kein Recht auf mehr Emanzipation hat, dass sie von der politischen Klasse nicht fordern kann, mit eingefahrenen Schemata zu brechen, dass sie nicht eigene attraktive und gleichzeitig überzeugende Rezepte für die Zukunft anmelden könnte. Ein Publizist hat kürzlich gesagt, die heutigen deutschen Wähler seien so unvorhersehbar wie das Aprilwetter. So ist auch die Wirklichkeit, in der wir leben. Man kann kaum von ihrer Unfehlbarkeit sprechen, es ist gefährlich, unumstößliche Wahrheiten zu verkünden. Dieser permanenten Variable und der Aufgewühltheit sind sich Politiker und Wähler bewusst. Was bleibt also? Ist es Zeit, noch einmal die Reifeprüfung zu bestehen?
* Małgorzata Ławrowska, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.
** Aus dem polnischen von Antje Ritter-Jasińska.
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* Autorinnen des Konzeptes für diese Ausgabe: Małgorzata Ławrowska und Karolina Wigura
** Mitarbeit: Kacper Szulecki, Jakub Stańczyk, Hubert Czyżewski, Emilia Kaczmarek
*** Koordination des Projektes bei Kultura Liberalna: Ewa Serzysko
**** Koordination des Projektes bei der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit: Magdalena Przedmojska
***** Illustrationen: Krzysztof Niemyski
Kultura Liberalna Nr. 245 vom 17. September 2013