Es wird Zeit, dass wir der globalen Wirtschaft die Stirn bieten
Richard Sennett im Gespräch mit Jakub Krzeski
Jakub Krzeski: In ihrem Buch „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“, das unlängst in Polen erschien, beschäftigen Sie sich vor allem mit dem institutionellen Mangel an Respekt gegenüber dem Individuum. Hintergrund ihrer Überlegungen ist das US-amerikanische Sozialsystem und nicht der europäische Kontext. Wie stellt sich dieses Thema aus der Sicht der Staatsschuldenkrise im Euroraum dar?
Richard Sennett: Überlegen Sie nur einmal, wie man versucht, die griechische Finanzkrise zu erklären. Man sagt, dass die Griechen ihre Steuern nicht zahlen, dass sie von der Schattenwirtschaft abhängig sind und sich auf die staatlichen Sozialleistungen verlassen. Man verwendet kulturalistische Argumente, um die dortige Finanzkrise zu erklären und die Unterdrückung der Ärmsten und Schwächsten zu legitimieren. Die Tatsache, dass jemand Grieche ist, stellt für die Banken einen ausreichenden Grund dar, ihn schlecht zu behandeln. Als ein Beispiel können hier die Äußerungen von Angela Merkel dienen. Wenn sie sagt, die Griechen müssten härter arbeiten, um die Krise zu überwinden, nimmt sie die Banken damit de facto aus der Verantwortung. Genau das meine ich, wenn ich von einem institutionellen Mangel an Respekt rede.
Man kann aber doch argumentieren, dass die Deutschen hart arbeiten und gewissenhaft ihre steuerlichen Pflichten erfüllen – und im Gegenzug wird ihnen das Geld aus der Tasche gezogen, damit andere ihre Schulden bezahlen können. Aus dieser Sicht ist Merkels Ungeduld gegenüber Griechenland doch verständlich.
Ich kann solche Argumente nur sehr schwer nachvollziehen. Ich denke, dass es sich die Deutschen sehr einfach machen. Zum Glück denken nicht alle so, wie Sie es schildern, aber in dieser Haltung äußert sich ein gewisses Gefühl einer kulturellen Überlegenheit, um es einmal milde auszudrücken. Dabei sind weder die Deutschen noch die Griechen für die Krise verantwortlich. Wenn man schon jemanden dafür zur Verantwortung ziehen möchte, dann die Banken. Goldmann Sachs, die ungeheure Summen an den griechischen Schulden verdient haben. Wenn ich Grieche wäre, würde ich niemandem etwas zahlen. Ich sehe keinen Grund, warum ein Volk, das von seiner eigenen Elite und von den Bankiers über den Tisch gezogen wurde, die Schulden einer reichen Klasse von Kapitalisten begleichen sollte.
Wenn eine Rückzahlung der Schulden nicht infrage kommt, wie kann man dann die Wirtschaft wieder in die Spur bringen?
Eine institutionelle Lösung wäre, verstärkt auf kleine Unternehmen zu setzen und nicht auf große internationale Konzerne. Die globale Wirtschaft von den Finanzmärkten abzukoppeln. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, aber wenn wir das Ausmaß der Finanzspekulationen begrenzen, könnten wir damit eine gewisse Stabilität herstellen. Das Problem ist, dass wir es zusätzlich mit einer Krise des Kapitalismus an sich zu tun haben. Institutionen wie die Weltbank lassen sich nicht davon überzeugen, dass es unbedingt notwendig ist, den Finanzkapitalismus einzudämmen und ihm ein sozialeres Antlitz zu verleihen.
Sie selbst glauben nicht an die Wahrscheinlichkeit institutioneller Reformen – können wir also damit rechnen, dass es in Zukunft keine weiteren Erschütterungen der weltweiten Finanzmärkte mehr geben wird?
Es sieht ganz so aus, als würden wir es in nächster Zukunft mit weiteren Zusammenbrüchen zu tun bekommen. Wir haben noch mindestens fünf Jahre der Krise vor uns, bis sich ein breiter gesellschaftlicher Widerstand gegen solche Vorgänge wie zuletzt in Griechenland regen wird. Was mich bei dieser ganzen Krise am meisten beschäftigt, ist die Frage, warum es heute so schwer ist, die Menschen zu Protestkundgebungen zu mobilisieren. Die ganzen Occupy-Bewegungen sind zwar wirklich schön, aber bisher doch ein Phänomen mit einer sehr begrenzten Reichweite, dabei müssten wir längst zu wirklich radikalen Mitteln greifen. Wir müssten die Bankiers ins Gefängnis stecken. Sie haben schließlich ein unvorstellbares Unrecht begangen, und doch versuchen die Menschen ständig, das alles zu rationalisieren und sich einzureden, dass es eben so kommen musste.
Das ist ein ziemlich extremer Standpunkt, ich denke einmal, sie sprechen von einem bestimmten Kreis von Personen, denen man eine juristische Schuld nachweisen könnte … Ich würde vorschlagen, dass wir die Situation einmal aus einer weiteren Perspektive betrachten. Könnten Sie vielleicht versuchen, eine Landkarte der sozialen Ungleichheiten im heutigen Europa zu zeichnen?
Ganz sicher würde sich meine Landkarte kaum mit der vorherrschenden Meinung decken. Also der Unterscheidung zwischen dem reichen Norden – Deutschland, Skandinavien, Großbritannien und Frankreich – und den ärmeren Nachbarn im Süden. Diese Karte ist falsch. Es reicht nicht, einfach nur das Wohlstandsniveau und das Bruttoinlandsprodukt miteinander zu vergleichen. Für eine solche Darstellung sind wesentlich differenziertere und subtilere Methoden notwendig. In vielerlei Hinsicht ist Großbritannien heute eine ungleichere Gesellschaft als Spanien.
Es ist schwer vorstellbar, dass ein Land wie Spanien, das seit Jahren in der Krise steckt und in dem die Arbeitslosenquote bereits bei fast 25 Prozent liegt, zurzeit eine gleichere Gesellschaft sein soll als Großbritannien. Wie ist das möglich?
Wenn wir auf soziale Ungleichheiten zu sprechen kommen, sehe ich die größte Bedrohung im Problem des Humankapitals, also der Chancengleichheit. Glauben Sie es mir oder nicht, aber ein junger Mensch in Großbritannien, der gerade sein Studium abgeschlossen hat und seine ersten Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt sammelt, hat wesentlich geringere Aussichten, eine seiner Ausbildung entsprechende Anstellung zu finden, als in Spanien. In Spanien gibt es trotz der dramatischen Jugendarbeitslosigkeit nach wie vor eine Beziehung zwischen der beruflichen Ausbildung und der Chance auf eine angemessene Beschäftigung. Dagegen wird die Kluft im Humankapital in Großbritannien und den USA immer größer.
Warum ist das so?
Das britische und US-amerikanische Bildungssystem ist darauf ausgerichtet, die Menschen auf eine Tätigkeit in jenen Berufen vorzubereiten, die diese ganze neoliberale Maschinerie in Gang halten. Man hat dabei übersehen, dass das Outsourcing in Entwicklungsländer nicht vor den attraktiveren Arbeitsplätzen haltmachen wird, und geglaubt, dass diese schon irgendwie in Europa bleiben werden. Das war eine katastrophale Fehleinschätzung. Dies wird zum Beispiel in der Computerbranche sichtbar. Es gibt bei uns eine ungeheure Zahl von Studiengängen, in denen junge Leute zu Programmierern ausgebildet werden. Doch anstatt ihnen anschließend eine Arbeit zu geben, ist es wesentlich rentabler, einen indischen oder israelischen Informatiker anzustellen. Das schlägt sich nicht in der Qualität nieder, sondern ist einfach viel günstiger. In den letzten fünfzehn Jahren hat sich in Ländern wie Brasilien, Indien, der Türkei und China eine Klasse hochqualifizierter Spezialisten herausgebildet, die Europa zuarbeiten, aber nicht in Europa arbeiten. Zusätzlich wird bei uns ständig das System der Überwachung von Arbeitnehmern ausgebaut, um die Qualität ihrer Arbeit zu kontrollieren. Die Arbeitgeber haben Angst, dass die Menschen einfach eine ruhige Kugel schieben, wenn man ihnen zu viel Freiraum lässt. Also werden sie wöchentlich und immer öfter sogar täglich kontrolliert.
Sie zeichnen da ein sehr pessimistisches Bild. Es lässt sich kaum bestreiten, dass wir immer mehr auf uns selbst angewiesen sind. Was können wir also tun?
Ich setze meine ganze Hoffnung auf die Zivilgesellschaft. Denn den Glauben daran, dass die Politiker eines Tages beginnen könnten, sich um das Wohl der einfachen Leute zu sorgen, habe ich längst verloren.
Und was ist mit der Europäischen Union? Wäre es nicht ihre Aufgabe, eine solche Gesellschaft zu schaffen?
Darüber streite ich mich schon seit vier Jahren mit den Menschen in den EU-Institutionen. Sie finden die Idee toll, aber tragen überhaupt nichts zu ihrer Umsetzung bei. Vom Prinzip her hätte die EU nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, eine solche Verantwortung zu übernehmen – bisher jedoch ist ihre passive Haltung lediglich ein weiterer Beleg dafür, dass sich die Politik immer weiter von den Menschen entfernt.
Wo können wir also nach Inspirationen suchen?
Wir sollten aus den Erfahrungen lernen, die die Menschen in Mittelosteuropa zur Zeit des Kommunismus gemacht haben. Sie haben es verstanden, ihre Lebensbedingungen selbst zu verbessern, trotz aller Widrigkeiten und vor allem ohne die Hilfe der Politik. Jetzt, da wir einem neuen Herren dienen, jener kapitalistischen Bestie, stehen wir vor genau derselben Notwendigkeit. Wir müssen uns selbst um uns kümmern, weil die Regierungen sich von dieser Aufgabe zurückgezogen haben. So wie es in den Achtzigerjahren galt, sich dem Staat zu widersetzen, um eine Zivilgesellschaft zu schaffen, ist heute, dreißig Jahre später, die Zeit gekommen, der globalen Wirtschaft die Stirn zu bieten.
Die heutige Situation unterscheidet sich diametral von der Erfahrung des Kommunismus zum Beispiel in Polen …
Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel geben. Ich war seinerzeit sehr aktiv in den amerikanischen Gewerkschaften tätig. Diese Institutionen haben nicht nur für eine bessere Bezahlung ihrer Mitglieder gekämpft, sondern auch für ihre sozialen Belange. Sie haben eine medizinische Versorgung auf die Beine gestellt, eine Betreuung von Kindern berufstätiger Mütter und auch eine Betreuung älterer Menschen. Wenn solche Institutionen die Notwendigkeit erkennen, über ihre traditionelle ökonomische Rolle hinauszugehen und sich in gleichem Maße um die alltäglichen Probleme ihrer Mitglieder zu kümmern, werden wir eine wirkliche Chance zur Stärkung und Erneuerung der Zivilgesellschaft erhalten.
* Richard Sennett ist Soziologe und Professor an der London School of Economics und der New York University.
** Jakub Krzeski ist Mitglied des Redaktionskomitees des Warschauer Wochenmagazins ”Kultura Liberalna” [Liberale Kultur].
*** Übersetzung: Heinz Rosenau.
„Kultura Liberalna” Nr. 217 (10/2013) vom 5. März 2013